The Sonic of Genome
Jazzfest Berlin 2019
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Peter E. Rytz
Nadin Deventer, im letzten Jahr als Hoffnungsträgerin des Jazzfestes Berlin nach bis dahin allein männlicher Intendanten-Dominanz angetreten, hat mit der Programmauswahl 2019 offensichtlich ihren Sound gefunden. Vielleicht für manche etwas überraschend, dass sie mit dem Multi-Instrumentalisten und Komponisten Anthony Braxton ein Urgestein der Chicago-Szene der 1960er Jahre in den Mittelpunkt rückt.
Ihm gilt ihre, wie sie zum Abschlusskonzert im Haus der Berliner Festspiele sichtbar emotional bewegt zum Ausdruck bringt, große Bewunderung. Überzeugt, dass Braxtons Musik eine allumfassende Ausdruckskraft zugrunde liegt, der eine kreative Autonomie gegen den Druck der Verwendungssysteme innewohnt, knüpft ihre Programmgestaltung unmittelbar daran an.
Deventer denkt nicht nur musikalisch groß als Brückenbauerin zwischen Gestern, Heute und Morgen. Sie öffnet neue Kommunikationswege. Die ersten Reihen im Parkett sind abgebaut, anstelle derer Matratzen ausgelegt und vor der hinteren und linken Bühnenwand temporäre Sitzplätze installiert. Die Musiker der Konzerte am Freitag und Sonnabend besetzen eine feste, kreisförmige Mitte. DieDrehbühne bleibt funktionslos.
Die konzeptionelle Idee, eine gleichberechtigte Kommunikationsebene zwischen Musikern und Zuhörern zu erreichen, birgt überzeugende Argumente für eine dialogisch konnotierte Offenheit. Konzert als Angebot eines lebendigen Erfahrungsraumes, der über das musikalische Erlebnis hinaus in die Wirklichkeit einer globalisierten Welt weist, kommt allerdings nicht nur für die Rücken der Matratzen-Jazz-Fans an ihre Grenzen.
Durch die Kreispositionierungen der Musiker ergeben sich für die einzelnen Sitz-Segmente divergierende Hör-Erlebnis-Perspektiven. Gleichzeitig wird damit durchaus ein stimmiges Gemeinschaftsgefühl erreicht. Organisieren sich individuelle Charaktere in Kollektive, wie das Programmheft optimistisch formuliert.
Braxton verklammert das Jazzfest mit seinem musikalischen Genius und seiner sozial engagierten Haltung. Überwölbt vom 6-stündigen Marathon der Langzeitperformance Sonic Genome im Gropiusbau zum Auftakt und seinem abschließenden Konzert mit ZIM Music, finden sich bildende Kunstprojekte und jazzige Improvisationen als auch folkloristisch beeinflusste Klangcollagen zu einem emblematischen Mosaik unter einem Dach zusammen.
Sonic Genome im Gropiusbau – nach Aufführungen in Toronto und Paris erst die dritte Aufführung in Berlin! – verwandelt über zwei Etagen die Räume der aktuellen Ausstellung Durch Mauern gehen in eine meditative Klanglandschaft. Nach fast halbstündigem, von mehr als 50 Musikern intoniertem Schwarmschweben gruppieren sich musizierende Gemeinschaften wandelnd durch das Haus, durchkreuzen Hör- und Rezeptionsgewohnheiten, extemporieren collagierte Sounds.
Von Ort zu Ort begleitet von den Zuhörenden, gehen sie gemeinsam in den nächsten Stunden (nicht alle werden Kondition und Aufmerksamkeit bis zum Schluss teilen!) im wahrsten Sinne durch Mauern tradierter Wahrnehmungen. Eine waghalsige Expedition auf der Suche nach dem Kern, der Musik in ihrer Substanz konfiguriert. Es bleibt offen, was im nächsten Moment am nächsten Ort passiert. Assoziierend Landscape music, ein sogenanntes Trans-Music-Versprechen von Freiheit, das nur in differenten Bewegungen, wenn überhaupt, zu erreichen ist. Allein die Konzentration auf den Augenblick, wenn es passiert, ist wichtig. Das Leben passiert schon – und sowieso -, während noch Pläne geschmiedet werden.
Jene inspirierende Kraft ist an diesem Abend, ob unmittelbar im bespielten Raum oder in einem entfernten Ausstellungsraum, beispielsweise Look at somebody there is no nonviolent der amerikanischen Künstlerin Wu Tsang, deutlich spürbar. So wie sie magisch mit Realitäten spielt, Grenzen zwischen Fakt, Fiktion und surrealer Erzählung verschwimmen lässt, öffnet Sonic Genome mögliche andere Klangräume.
Kultur und Praxis von Sonic Genome, Musik verstanden als lebendiger Organismus, der aufgespalten in verschiedene Klangkollektive gemeinsam atmet, verbindet auch die anderen Konzerte des Festivals insgesamt. Programmatisch ambitionierte Formationen wie Christian Lillingers Projekt Open Form for Society oder Origami Harvest von Ambrose Akinmusire im Wechsel mit Bigbands wie das Australian Art Orchestra mit Kompositionen von Peter Knight (tp, electronics) und Julia Reidy (g) basieren auf ähnlichen Überzeugungen.
Lillingers mitunter auktorial konfigurierte Open Form for Society, wenige Tage zuvor bei den Donaueschinger Musiktagen zu Gast, stellt die Idee der offenen Gesellschaft, musikalisch transformiert in freien Improvisationen, neu zur Disposition. Überambitioniert und überanstrengt verliert sich Lillinger von Zeit zu Zeit in selbstverliebt erscheinender Virtuosität, wo Akinmusire mit dem Rapper und Sänger Koyaki sowie dem Mivos String Quartet narrativ akzentuiert.
Vieles von jener Jazz affinen Sperrigkeit und Widerständigkeit zu kontrastieren, gelingt den Big-Band-Formationen. Bei einzelnen Jazz-Festivals häufig nur als legitimatorisch gefühlter Respekt vor ihrer Tradition, entdecken sowohl die Big Band des Hessischen Rundfunks als auch das Australian Art Orchestra andere Ufersäume.
Jim McNeedy (cond) zelebriert mit Melodic Ornette eine begeisternde Hommage auf Ornette Coleman. Dass die HR-Bigband von einem exquisiten Quartett um den enigmatisch coolen Pianisten Joachim Kühn – er hat in den 1990er Jahren viel mit Coleman gespielt - über ein Repertoire von 150 seiner Stücke verfügt, verflüssigt den großflächigen Sound in einen kammermusikalisch anmutenden Dialog. Michel Portal, inzwischen 83-jährig, entfacht mit seiner Klarinette ein Feuerwerk irrwitziger Läufe, vom Bassisten François Moutin geschmeidig paraphrasiert und vom Drummer Joey Baron in rhythmische Resonanzen transformiert, ist es, als würde Coleman mitatmen.
Das Australian Art Orchestra spielt Kompositionen von Julia Reidy (g) und Peter Knight (tp, electronics) als Deutschlandpremiere. Mit Knight, derauch das Orchester von seinem Platz aus behutsam, gleichwohl nachhaltig leitet, entfaltet sich eine Chiaroscuro-Klangfarbigkeit, die den Rhythmus des Romans The Plaines von Gerald Murnanes kommentiert. Beispielhaft für das Selbstverständnis des Orchesters, dass es sich für innovative zeitgenössische Musik mit dem Schwerpunkt auf Improvisation einsetzt. Transkulturell grenzüberschreitend spiegelt ihre Musik die Energie und Vielfalt Australiens wider – und passt damit hervorragend in Deventers Konzept des diesjährigen Jazzfestes.
Brian Marsela, der in Berlin mit einem seiner seltenen Solokonzerte brilliert, entdeckt auf dem Piano in abrupt absetzenden Kaskaden ein kosmisches Sound-Universum zwischen Ruhe und Inferno. Angesichts der höllisch vibrierenden Klavierläufe traut man seinen Augen kaum. Die Ohren baden dagegen rauschhaft.
Das Konzert von Sinikka Langeland am Sonntagnachmittag in der Gedächtniskirche betont eine weitere, ganz andere Facette transkultureller Aufmerksamkeit. Sauna Cathedral übersetzt finnische, in Runen geschriebene Mythen – Kokko, Creator Eagle, Fire Fish - in ein magisch poetisches Gebet als Beschwörung der Natur. Meditativ, esoterisch aufgeladenen, legt sich ein überirdisch harmonischer Soundteppich in die Kirche. Langeland singt, selbst von der finnischen Kantele sowie u. a. von dem empathisch reagierenden Saxofonisten Trygve Seim und von dem nicht minder aufmerksamen Trompeter Eivind Nordset Lønningbegleitet, mit kolorierendem Melos.
Stolz resümiert der Sprecher des ARD-Gremiums, Ulf Drechsel, dass ausgewählte Jazzfest-Konzerte 2019 in den nächsten Wochen nicht nur nachgehört und –gesehen werden können, sondern dass das gesamte Tonmaterial (Sonic Genome) Braxton jetzt in Chicago bearbeiten und daraus ein einstündiges Radio-Hör-Stück produzieren wird. Fortsetzung folgt noch, bevor Jazzfest 2020 an den Start gehen wird.