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Verwandlungskunst für die Zukunft

Südtirol Jazzfestival Alto Adige 2024

Bozen, 09.07.2024
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Das Südtirol Jazzfestival Alto Adige 2024 hat es mal wieder unter Beweis gestellt: Jazz ist zu 99 % eben nicht das ist, was viele sich gemeinhin darunter vorstellen. Bei der Programmplanung ziehen Max von Pretz, Roberto Tubaro und Stefan Festini Cucco neue Quellen heran, setzen auf das international vernetzte Nehmen und Geben innerhalb einer dynamischen jungen Musikszene. Das neue Leitungsteam ist seit letztem Jahr engagiert dabei, das Festival mit seiner durch Klaus Widmann langjährig aufgebauten DNA kreativ in die Zukunft zu denken.

Mehr Gewicht bekommen überregionale Kooperationen mit anderen Festivals, ebenso mit Förderinstitutionen wie dem NICA-Artists-Netzwerk, was auf jeden Fall der gemeinsamen Sache, um die es geht, gut tut: Dem Engagment für eine vereinigte (Musik-) Kultur aller Länder, um allen äußeren, ökonomischen wie gesellschaftlichen Widerständen erfolgreich zu trotzen.

Eine energetische Double Band (also mit zwei Rhythmusgruppen und zweimal Tasten) hatte der Kölner Saxofonist Fabian Dudek dank NICA nach Südtirol gebracht – und die rockten den Kapuzinerpark mit Spiellust und Präzision. Übrigens hatte diese Bands bei der Cologne Jazzweek ihre Geburtsstunde. Noch erfreulicher, dass noch eine weitere Band aus NRW den Weg auf die Bozener Jazzbühne geschafft hatte, nämlich das Trio Maelstrom bestehend aus Florian Walter (sax), Jo Beyer (dr) und Axel Zajac (g), die mit den rauen Klanggewittern eines progressiven Ruhrgebiets-Jazz die Mauern des Kapuzinerparks wackeln ließen.

Nächtliche Unterwanderung

Das Unerwartete ist gewollt – ja, entsteht meist wie von selbst, nicht selten an wechselnden Nebenlocations des Festivals: Kurz vor der Geisterstunde dringt eine überschaubare Gruppe verrückter Menschen in Bozens riesige, aber zu diesem Zeitpunkt menschenleere Messehalle ein, in der jetzt etwas ganz anderes stattfinden soll, als die sonst üblichen Großevents der Wirtschaft oder der Unterhaltungskultur. Es hat schon etwas Rituelles, wie hier nun alles in eigenwilliges, bläuliches Licht getaucht ist und wo eine Schar von Verrückten einen Kreis um die Band Skylla bildet. Das ist die Band von Ruth Goller, eine ganz und gar eigenwillige Verbindung von E-Bass, Schlagzeug und gleich drei weiblichen Gesangsstimmen, deren Sphärengesang, von hypnotisierend repetitiven E-Bass-Mustern scheinbar gelenkt, um ein Zentrum auf einer höheren Daseinsebene kreist. Nach Ruth Gollers Bekunden drücken die Stücke Skyllas ihren eigenen Stream of Consciousness aus. Keine Frage – so etwas hatte diese Halle wohl noch nicht vorher erlebt. Allein, weil jedes Konzert von Skylla (sie waren vorher ja auch in Moers) immer eine Neu-Erfahrung markiert.

Ein Stummfilm wird zum vierten Bandmitglied

Was improvisierende Musikerinnen und Musiker aus dem Moment schöpfen können, stellte ein Filmkonzert in Kooperation mit dem Bozener Filmclub unter Beweis. Saxophonist Daniel Erdmann, die impulsive Schlagzeugerin Francesca Remigi und nochmal Olga Reznichenko an ihrem Umhänge-Keyboard improvisierten völlig aus dem Stegreif heraus zum bildgewaltigen Action-Stummfilm „Mr. Radio" aus dem Jahr 1924, in dem schon vor 100 Jahren alle Register eines opulenten Action-Kinos gezogen wurden. Die Rollenverteilung für die musikalische Interaktion des Trios ergab sich wie von selbst: Saxophonist Daniel Erdmann trieb in seinem Spiel die Emotionen fast schon leitmotivisch voran. Olga Reznichenko übersetzte die Bilderflut des Films in eine schillernde Klangfarbenvielfalt, während Schlagzeugerin Francesca Remigi dafür sorgte, dass jeder Kubikzentimeter des Raumes mit der ganzen dramatischen Energie der aberwitzigen Filmhandlung angefüllt war.

Bei einem Morgenkonzert in der Spirituosen-Brennerei Roner schufen die Theremin-Spielerin Pamela Stickney und Gitarrist Peter Rom ein leises, aber kreatives kammermusikalisches Kleinod. Das mystisch anmutende Theremin-Spiel verschmolz mit der Gitarre zu einem impulsiven Kaleidoskop lyrischer Klangpoesie und vielfältiger Stileinflüsse. Ihr Höhepunkt, eine Interpretation eines Stücks von Olivier Messiaen, wirkte so überzeugend, als wäre es speziell für dieses ungewöhnliche Duo komponiert worden.

Swingende Berghütten

Das Sich-Entführen-Lassen an besondere Orte gestaltet sich manchmal unvorhersehbar, vor allem, wenn das Bergwetter nicht mitspielt. So musste das Trio Haezz sein geplantes Freiluftkonzert hoch oben auf den Almwiesen beim Rittnerhorn in eine Holzhütte verlegen. Aber das behagliche Setting, bei dem das Publikum auf Strohballen saß, gab einmal mehr der Verwandlungskunst dieses Festivals Nahrung: Plötzlich war aus der Scheune ein alpiner, swingender Jazzclub geworden, in dem auch mal eine Hommage an Thelonious Monk erlaubt war - manches ist einfach so zeitlos, dass es sich auch in die vor Spielwitz und Fantasie sprühende Gegenwart dieses Trios einfühlt, von dem man gerne noch viel mehr hören möchte.

Das Südtirol-Festival ist kein Massenevent und will es auch nicht sein. Dennoch rollt das Festival auch immer rote Teppiche aus, um einladenden Wohlklang an schöne, stilvolle Locations zu bringen. Die lauschige, große Parkanlage des ehrwürdigen Grandhotels Laurin mit Pool und unter Bäumen, begleitet von Vogelgezwitscher und Glockenläuten war dann auch das vierte „imaginäre Bandmitglied" für das zu kühlen Drinks leichtfüßig in hellen Farben freundlich jazzende Trio um den Münchener Pianisten Nils Kugelmann.

Rituale für die Zukunft

Das „Batzenhäusel" ist das Festivallokal, de facto eine Brauerei mit einem riesigen Draußen-Gastro-Bereich, in dem viele vorwitzige kleine Spatzen einem die Krümel von den Tellern picken und wo in diesen Tagen vor allem die Fußballübertragungen den letzten Platz füllten. Eine Etage tiefer, im Sudwerk, waltet das ästetische Versuchslabor des Festivals. Hier wurde dann auch die mehrstündige Performance "Kabarila" fortgesetzt, die von dem Ethnologen Stefan Cucco Festini ausgedacht und vom Bassisten Lukas Kranzelbinder realisiert worden war mit dem Ziel, auf der Basis archaischer Trance-Rituale und von Elementen aus der Rave-Kultur konventionelle Zeit- und damit Erlebnisformate größer und freier zu machen. Geerdet durch die Bassfiguren von Lukas Kranzelbinder und getaktet durch einen präzisen Schlagzeugpuls, ebenso durch oft psychedelische Sounderuptionen von Querflöten und Saxofonen entstanden auch in der zweiten Folge bis tief in die Nacht hinein genug aufreizende Prozesse. Deutlich stärker ausgeprägt als im letzten Jahr, wo es viel dancefloor-affiner seinen Lauf genommen hatte, überwog bei der diesjährigen Kabarila-Auflage in diesem Jahr der performative Effekt – vor allem durch die beiden Tänzerinnen und zwei Tänzer, die auch ins Geschehen auf der Bühne körperlich intervenierten.

Ruth Gollers Band „Training" zeigte beim letzten Abendkonzert des Festivals klare Kante, wenn es um kraftvolle Antworten auf die laute Gegenwart geht und wo diese Bassistin ihr Instrument immer wieder so konsequent wie kaum sonst jemand als Lead-Instrument, aber auch als lyrische Stimme emanzipiert. Dystopischer Noise als Statement für kulturellen Mut, sich nicht mit vorgefertigten Schablonen zufrieden zu geben, sondern auszubrechen, aktiv und laut zu werden. Was aber auch die zarte Empfindung nicht ausschließt, wie sie sich in Ruth Gollers fragilen Vokaleinlagen, die überhaupt immer mehr ihre Stimme als Instrument für sich entdeckt, ausdrückt.

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