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Sternstunden am Niederrhein

Sommerton-Festival 2015 machte kulturellen Reichtum erfahrbar

Wesel, 31.08.2015
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Bernd Zimmermann

Beschaulich ist die Landschaft am Niederrhein und das Schloss Diersforth ein besonderes, ländliches Idyll. Einmal im Jahr wird dieser Ort zum Schmelztiegel der Musikkulturen. Sommerton bietet die Vielfalt des Jazz und zugleich dessen Wurzeln, nämlich die vielen improvisierten, überlieferten Musiken dieses Kontinents – und manchmal weit darüber hinaus. In dieser Hinsicht schöpft Festivalleiter Wilfried Schaus-Sahm aus langjährigen Erfahrungen mit dem Traumzeit-Festival und greift auf entsprechend gewachsene internationale Kontakte zurück.

Gerade jenseits vieler deprimierender politischer Wirklichkeiten zeigt Musik immer wieder, dass es jenseits der Nachrichten und Katastrophenszenarien Menschen mit Lebensgefühl und gewachsener Kultur gibt. Aus Ungarn hört man auch viel ungutes in der letzten Zeit. Aber von dort und zu einem gewissen Teil auch aus Serbien kommt das intensive Duospiel der beiden Violinisten Lajkó Félix und Antal Brasnyó. Die beiden liefern im Festivalzelt einen frenetisch mitreißenden Einstieg, bringen ihre Saiten regelrecht zum Aufglühen, sind auf ihren Streichinstrumenten Rhytmusgruppe, Orchester und ekstatische Stimme zugleich. Da lebt der reiche Fundus osteuropäischer Tonalität, sprüht pure, ansteckende Lebenslust.

Auf einer ähnliche Schiene in Sachen gewachsener Überlieferungskultur ist die Sängerin Amira Medunjani unterwegs. Erhaben und stolz wirkt ihre Ausstrahlung, und dies schwingt auch in ihrer Gesangsstimme mit. Mit dunklem Timbre gesättigt transportieren ihre Lieder ganz viel Sehnsucht und Leidenschaft. So etwas bündelt geballte menschliche Emotionen aus einem Kulturraum, der einst zu einem Vielvölkerstaat vereint war, dann in blutigen Kriegen zerfiel und sich heute ums Weiterleben bemüht. Und wo die überlieferten Geschichten, Lieder und Klänge doch wie ein gemeinsames Klima oder eine Landschaft, ja ein Zuhause anmuten – egal ob die Songs aus Bosnien, Mazedonien oder Serbien kommen. Und Armira Medunjani ist auf dem Sommerton-Festival Teil einer fabelhaften aufs wesentliche reduzierten Band. Ausdrucksstarker Gegenpol der Sängerin aus Sarajavo ist das elektrisierende, orientalisch angehauchte Pianospiel von Bojan Z, aufgeladen mit spannenden östlichen Wendungen - fast wie aus der Mugham-Tradition.

In Sachen vollendeter Pianistik gibt es beim Sommerton eine definitive Sternstunde: Stefano Bollani musiziert im symbiotischen Duo mit dem Trompeter Enrico Rava. Auf Anhieb ist hier klar, wer in diesem italienischen Duo das energetische Epizentrum ist und wer hier wen mitreißt. Nach eigenem Bekunden genießt Enrico Rava diesen etwas dominierenden Einfluss seitens des jüngeren Duopartners sehr. Die Folge ist eine zuverlässig wirkende, perfekt funktionierende Symbiose voller ansteckendem Charme. Italien pur! Beide verzahnen ihr Spiel, musizieren straigt ahead und auf Umwegen, treiben sich an, spielen miteinander und das setzt sich im komödiantischen Charme bestens fort. So geht Improvisieren auf der Bühne und dabei mit dem Publikum kommunizieren. Und den italienischen Pianisten Stefano Bollani sollten sich mal viele andere jazzklavierspielende Kollegen anhören: Rava demonstriert, was manchen anderen zuweilen abgeht, nämlich ein Bewusstsein für ausgefuchste Anschlags-Raffinesse, also für die hohe Kunst, Phrasen und Töne zu modellieren, so dass diese physisch, haptisch, fühlbar werden. Dazu gehört auch, die dynamisch differenzierte Rollenverteilung zwischen linker und rechter Hand gestalterisch ernst zu nehmen, was Bollani auch mit jener Finesse locker gelingt, wie sie sonst den besten Klassik-Interpreten eigen ist!

Den Ruf, etwas ganz besonders zu sein, haben die Sonntagskonzerte in der Schlosskapelle zu Diersfordt. Die Vorgabe wirkt ambitioniert: Ein Solokünstler bringt alleine sein ganzes künstlerisches Spektrum innerhalb einer Stunde auf den Punkt. Die an den Niederrhein eingeladenen Weltklasse-Künstler wissen in der Regel, wie dies auszugestalten ist. In diesem Jahr stellt sich der Brite John Surman dieser Herausforderung. Und das produziert in ganz besonderem Maße eine große Nähe zwischen Musiker und seiner Hörerschaft. Es beginnt damit, dass die Zuhörer dem gerade 72 Gewordenen ein Ständchen singen. Sichtlich gerührt greift Surman zur Altblockflöte, um dann improvisierend etwas ganz neues aus dem einfachen Happy-Birthday-Liedchen zu machen. Damit entblöst er regelrecht die Physiognomie seines Spiels. Der typische, unverkennbare Surman-Sound kommt schon jetzt ganz nah - diese bestimmten Wendungen, zuweilen Melismen, dieses Timbre, was im Innersten berührt und in so vielen legendären Konstellation der Jazzhistorie schon verewigt ist. All dies setzt sich in der kleinen Schlosskapelle fort, blüht auf, entfaltet sich. Vom Sopransax wechselt der Brite zum großen Bariton, um von himmelhohen Registern ausgehend ganz tief in den dunklen Keller hinunter zu gehen, und auch die Bassklarinette füllt sehr erhaben die Kirchenakustik. Surman breitet seine Kunst in sehr aufgeräumter Form aus. Jedes Stück scheint für einen anderen, klar definierten künstlerischen Ansatz zu stehen. Raffiniert setzt Surman die Elektronik ein, zieht Ostinato-Löufe als metrische Orientierungsspur heran, bewegt sich auf Sequencer-Tonskalen wie auf einem schmalen Steigt, um auf improvisatorischer Gratwanderung mutig weitere, neue Höhen zu erklimmen. Surman spielt mit maximaler Finesse und Fantasie und bleibt doch so melodiös dabei. Und mit viel britischem Humor plaudert er über seine Inspirationsquellen. Das sind nicht selten uralte Folksongs aus seiner Heimat – etwa ein uraltes Lied, mit dem die Kühe herbeigerufen werden sollen. Eine Invasion niederrheinischer Rindviecher in oder vor der Schlosskapelle blieb aber aus.

Sendetermin im Radio:

WDR 3 Konzert | Mittwoch, 7. Oktober 2015, 20.05 – 22.00 UhrSarajevo, Serbien, Senegal-Wales

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