Starkes Duisburg
Platzhirsch Festival 2021
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Wild, frei und unberechenbar gebärdet sich das Platzhirsch Festival in Duisburg. Auch die neueste Ausgabe wurde einem ambitionierten Anspruch gerecht - diesmal im großen Zelt, welches dem Duisburger Kultursommer zu verdanken ist und durchaus etwas an das gute alte Moers-Festivalzelt erinnert....
Als im Jahr 2013 das Traumzeit-Festival wegen kommunaler Querelen und Sponsoren-Wegfall kippte, verpflanzten unermüdliche Idealisten den ursprünglichen Geist dieses Festivals mitten in die Duisburger Innenstadt und gründeten den Verein Kultursprung e.V., der seitdem das Platzhirsch-Festivals ausrichtet - mit zahllosen Volunteers, unterstützt durchs städtische Kulturbüro sowie durch Spenden und Crowdfundings gestärkt. Dass sich hier nun seit neun Jahren exquisite Besetzungen, Projekte, Performance, Ausstellungen gegenseitig befruchten, liegt an einer gelungenen "Vereinigung von Leidenschaft und Kompetenz", wie es Thorsten Töpp, einer der Kuratoren des Festivals auf den Punkt bringt.
Tauchen wir ein, lassen wir uns fallen - aus Zeitgründen leider nur am Samstag und Sonntag: Furiose Klänge branden aus dem Zelt bei der Ankunft. Die Drums traktiert Kevin Shea, einer der aktuellen Moerser Improvisors in Residence. (Überhaupt ist dank des Bookers Sebastian Schwenk die programmatische Nähe des Platzhirsch zum Moers-Festival eine feste Größe). Hier befeuert Shea ein unglaublich energetisches Trio, bei die klanglich reichhaltige Tastenmagie seitens der Belgierin Marlies Debacker zum Gegenpart in perfekter kommunikativer Balance wird. Dritter im Bunde bei allen freiwerdenden Energieströmen ist der Saxofonist Salim Javaid, der alles mit seinen ekstatischen Linien flutet.
Sich in Wechselbäder stürzen ist Programm beim Platzhirsch. Eines der idyllischsten Orte, wo sich "typisches Ruhrgebiet" erleben lässt, ist der Duisburger Dellplatz. Gestärkt durch ein Wegbier vom Kiosk geht es hinüber zur Sankt-Josefs-Kirche. Hier entfalten der Cellist Ludger Schmidt, Thorsten Töpp an der Gitarre und die Violinistin Julia Brüssel ihre ganze kammermusikalisch geerdete, zugleich elektronisch aufgemotzte Klang-Fantasie. Vor allem, wenn der Cellist Ludger Schmidt seinen Ton durchs Wahwah-Pedal jagt, wird es in der Kirche echt psychedelisch. Mittendrin im Soundnebel wirkt eine Art barocke Fuge wie eine surreale Erscheinung. Auch das eine unvorhergesehenen Erfahrung.
Im nächsten Moment schon wieder something completely different: Die verordnete und hingenommene Friedhofsruhe der Lockdown-Zeit ist vorbei - spätestens seit die belgische Metalband „Wiegedood“ den Kantparkt mit seinem alles verschlingenden Soundorkan erbeben lässt. Etliche Zaungäste lugen neugierig durch die Löcher im Zaun, was denn da wohl lost sei und viele optisch erkennbare Fans dieser Musikrichtung füllen jetzt das Zelt. Damit zeigt sich die bewährte Philosophie beim Platzhirsch - nämlich durch eine breit gefächerte Programmplanung an verschiedene Publikumssegmente anschlussfähig zu sein. No Mainstream ist aber immer der gemeinsame Nenner, der auch den Kenner zum erfrischenden Blick über routinierte Tellerränder hinaus motiviert. Das ist auch gut so, denn das Programm demonstriert, dass es keinen Stillstand gibt- nirgendwo. Auch nicht bei der kanadischen Band Deliluh, deren eigenwilliger Düster-Industrial-Sound dem bohrend-schweren Gesang (irgendwo zwischen Sisters of Mercy und Stan Ridgeway) des Frontmannes eine Bühne bereitet, während der Drumcomputer stoisch marschiert und die Synthesizer gleißen.
Die improvisierte Musikszene trauert in diesem Jahr um den im Februar verstorbenen, in Duisburg lebenden Improvisationskünstler Philippe Micol, der die Stadt Duisburg im Verbund der "Soundtrips NRW" kuratierte. (siehe Meldung und Nachruf auf nrwjazz auf unter.....) Seine Nachfolgerin wird die Schlagzeugerin Maria Portugal, die aktuell nun auch fest in Duisburg lebt.
Symbolträchtig vereinten sich dann Maria Portugal (Schlagzeug) Erhard Hirt (Gitarre), Martin Verborg (Violine), Sebastian Büscher und Stefan Keune (sax) sowie Carl-Ludwig Hübsch (tuba) in einer feingewebten, improvisierten Hommage. Fragil und vorsichtig, verstärkt durch die schwebende Raumakustik der Kirche, werden Emotion in unmittelbare Instrumentalklänge "übersetzt", nähren einen intuitiven, geteilten Prozess. Einen Abend zuvor hatte schon Thorsten Töpp in einem Solo-Recital dem Komponisten Philippe Micol gedacht - unter anderem in dessen bestechend logisch geformten Improvisationsetüden und nach einigen barocken und spanischen Exkursen in einer spirituell daher kommenden Zwölftonkomposition des Schweizers Frank Martin.
Ein weiterer prominenter Duisburger Musiker ist der Pianist Kai Schumacher, dessen pianistische Innovationen im Spannungsfeld zwischen Jazz, moderner Klassik und Minimal Music wirken. Beim vorletzten Moers-Festival hatte er sich mit einem fabelhaften Klavierquartett der Minimal Music des amerikanischen Komponisten Julius Eastman angenommen - beim Platzhirsch gab es eine Neuauflage mit dessen symbolträchtigen Stücken "Evil Nigger" und "Gay Guerilla" diesmal in der Besetzung mit Mirela Zhulali, Benedikt ter Braak und Itxaso Etxeberria.
Die Herausforderungen müssen extrem sein. Die Wirkung der Musik ist auch im Platzhirsch-Zelt hypnotisch: Eine reduzierte Moll-Tonfolge bildet das Grundgerüst, in welchem sich vier Klaviere in Endlosschleife vereinen, die aber voller subtiler Veränderungsprozesse ist. So statisch das Grundgerüst, so subtil sind die Variablen, um die Musik aufbrausen und atmen zu lassen - mit einer Flächigkeit, die aus unablässig hämmernden Tonrepetitionen resultiert. Jede Aufführung dieses Werkes wird zwangsläufig zum Unikat. Im Platzhirsch-Zelt entfaltete sich eine besonders dynamische Lesart - noch dichter und homogener wurde das Gesamtgefüge von viermal zwei Händen auf vier Flügeln im zweiten Stück "Gay Guerilla". Ein spektakuläres Finale eines sympathischen Festivals, das mit seinem Potenzial eigentlich noch viel mehr überregionale Publikumsresonanz verdient!