"Songs for Komeno" bei Klangart in Wuppertal
Die Glocken läuten noch
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Eine etwa zehnminütige Rede von Günter „Baby“ Sommer hatte das Publikum bestens auf das Kommende eingestimmt. Dann zogen insgesamt fünf Musiker hinein in ein oft frei improvisiertes, aufwühlendes Klang-Panorama: Da atmet immer wieder die melancholische, oft ekstatisch aufgeladene Melodik alter griechischer Volksmusik. Evgenios Voulgaris spielt das gestrichene Yali Tanbur und die griechische Version der Oud. Lange, melismatisch schwebende Melodienbögen atmen eine Melancholie. Zeitmaße sind ausgedehnt, wirken unmittelbar und meditativ. Allein dadurch wird erlebbar, dass Musik im traditionellen Kontext dieser Kultur viel mehr vermag als nur zu unterhalten. Doch das Vertraute, Wärmende, Spirituelle wird jäh zerrissen. Improvisatorische atonale Attacken zerreißen das Bild. Immer wieder explodiert die Band im wütenden Crescendo. Als würde etwas Unbekanntes, Bedrohliches ins Vertraute, Gewachsene brutal eindringen. Als wäre urplötzlich nichts mehr so, wie es gerade war. Man ist durch die Kenntnis des Kontextes gut eingestimmt, so dass sich beklemmende Assoziationen einstellen und die ganze imaginäre Bildkraft der Musik miterlebbar wird.
So vieles verdichtet in so einer Lesart lautmalerisch das historische Geschehen, die unmittelbareWirklichkeit und die Emotionen der Betroffenen. Klagegesänge der Klarinette tasten sich zaghaft voran, um sich im nächsten Moment zum verzweifelten Aufschrei aufzutürmen. Donnernde Schlagzeugimpulse zeigen, wie das Unheil näher kommt. Die Snaredrum artikuliert einen Marschrhythmus. Es ist Krieg. Gongs werden zu Glockenschlägen, ein akustisches Abbild von genau jenen, an welche sich die Zeitzeugen erinnern. Savina Yannatous Stimme verdichtet sämtliche emotionalen Regungen, deckt ein riesiges Spektrum ab. Die griechische Vokalkünstlerin begreift ihre Stimme wie ein Instrument von großer Gestaltungskraft. Zartheit und Wärme strahlt aus diesem Gesang, aber auch Härte, Wut, Verzweiflung, wenn sich die Laute überschlagen. Auch „Baby“ Sommer, der manchmal ein ganzes Trommelfeuer losbrechen lässt, setzt phasenweise die eigene Stimme ein.
Doch atmet diese Musik auch eine tiefe Ruhe, vermittelt Wärme, ja, transportiert über weite Strecken einen ausgesprochen menschlichen Gestus. Pulsierende Ostinati geben dem Fluss der Töne und Melodien manchmal etwas Rituelles. Die innigste, beredteste Phase des Konzertes überwältigt gegen Ende der Aufführung: Savina Yannatou singt eine klagende, aber auch sehr intime Melodie. Dazu spielt Günter Baby Sommer den Hang, einer Art Steeldrum, auf denen sehr singende Intervallfolgen eine sinnlich atmende, im tiefsten Inneren berührenden Verbindung mit der Stimme dieser Ausnahme-Vokalistin eingehen.
Choralartige Melodien suggerieren Menschlichkeit. Per Zuspielung hören wir einen bohrenden rezitativischen Sprechgesang von einer betagten Zeitzeugin, die das schreckliche Geschehen vom 16. August 1943 erzählt. „Das Morgengrauen kam, und die dreckigen Hunde kamen. Ach, kleine Kinder töteten sie, die noch in der Wiege schliefen. Ach, und sie hatten kein Mitleid und warfen Lebende ins Feuer (...)“
Auf einer Projektionswand neben der Open-Air-Bühne sehen wir Bilder dieses Ortes, von dem die Rede ist. Eine maschinengeschriebene Auflistung jener insgesamt 317 Menschen, davon allein 97 Kinder und Jugendliche, die durch die Mördertruppen der deutschen Wehrmacht im Jahr 1943 ausgelöscht wurden. Erlösend wirkt viel später ein Bild von Komeno aus heutiger Zeit. Spielende Kinder und ein farbenfrohes Spielgerät daneben. Ein bescheidener, aber liebevoll gestalteter Obelisk beherrscht den Dorfplatz und mahnt, dass so etwas nie wieder passieren darf.
CD Tipp
Günter Baby Sommer
„Songs for Komeno“
mit Savina Yannatou, Floros Floridis, Evgenious Voulgaris, Spilios Kastanis
Intakt-Record 2012