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Das Jahr beginnt in hellen Farben

Shortcut in Münster appellierte an die Lebensfreude

Münster, 08.01.2024
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Es ist alles eine Frage des Standpunktes. Das imposante Foucaultsche Pendel, welches in Münsters Dominikanerkirche an einem über 20 Meter langen Stahlseil hängt, bewegt sich selbst ja eigentlich gar nicht - sondern es ist die Erde drumherum in ihrer permanenten Rotation. Diesen Gedanken äußerte der französische Tubist, Bassist und Serpent-Spieler Michel Godard über Gerhard Richters bemerkenswertes Kunstwerk, welches dieser der Stadt anlässlich seiner renommierten Skulpturenausstellung im Jahr 2018 geschenkt hat. Möglicherweise hatte Godards Nachdenken auch sein Spiel auf dem Serpent, jenem schlangenartigen Blechblasinstrument aus dem 16. Jahrhundert inspiriert. Godards meditative Klänge schenkten dem Shortcut, jener „kleinen Ausgabe“ des Internationalen Jazzfestivals Münster ein lyrisches Finale. Teilweise machte hier auch ein E-Bass mit, auf welchem Godard eine Figur spielte und diese dann dem Loopgerät überließ. Das Internationale Jazzfestival Münster tat ein weiteres Mal gut daran, mit improvisierter Musik an besonderen Orten Kontexte in Bezug zur reichen Stadtgeschichte und kulturellen Gegenwart der Stadt auszuloten. Und auch im Theater, dessen Besuch alljährlich den Start ins neue Jahr veredelt, bewies Fritz Schmücker ein hervorragendes Händchen für Dramaturgie.

Die junge Violinistin Anaïs Drago als Entdeckung des Festivals

Schmücker kuratiert seit fast 40 Jahren dieses Festival. Nach wie vor sprüht aus den von ihm herbeigeführten Deutschland-Premieren spannende musikalische Aktualität der aktuellen europäischen Musikszene. Ihren definitiven Höhepunkt hatte diese Ausgabe gleich beim ersten Konzert: Die junge italienische Violinistin Anaïs Drago ist die Entdeckung schlechthin. Was die Norditalienerin drauf hat, hatte kurz vor der Fahrt nach Münster schon eine Hörsession mit ihrer fabelhaften Solo-CD erfahrbar gemacht. Würde sich diese geballte kreative Konsistenz auch fortsetzen, wenn sie hier mit einer Combo auf der Bühne steht? Ja – und das mit dreifachem Ausrufezeichen!

Gemeinsam mit Federico Calcagno, der Klarinette und Bassklarinette spielt, und Max Trabucco an Schlagzeug und Perkussion entfaltete sich ein innovativer Musizieransatz, der spektakulären Gleichklang zwischen improvisatorischer, virtuoser, neutönerischer und lyrischer Bravour herstellte. Kann man ein Instrument mehr lieben, als wie es diese junge Musikerin tut, die unter anderem das Orchestra Nazionale Jazz Giovani Talenti unter Paolo Damianis Leitung zu einer ihrer maßgeblichen Talentschmieden zählt? Sie versteht und behandelt ihr Instrument denkbar ganzheitlich, gezupft und gestrichen - zum Großteil akustisch, denn da gibt es so vieles auszukosten, das man gar nicht viel Effekt-Elektronik braucht. Zunächst spielt sich das Trio mit mehreren virtuosen Abgeh-Nummern warm, dann wird mit der Bearbeitung eines John Cage-Stückes ein Schalter umgelegt: Die minimalistischen Texturen bieten Raum für sinnliche Improvisation bei allen dreien, das offenbart selbst im kleinsten Mikrokosmos umso größere Freiräume. Faszinierend auch, wie der Klarinettist an den schillernden Farbenreichtum des Streichinstruments andockt und wie sich der Schlagzeuger als extrem versierter, reaktionsschneller Broken-Beats- Artist erweist. Schließlich nehmen sich die drei der wilden Leidenschaft und Rhythmik der osteuropäischen Musik an – auch das auf einem Level, der die Luft brennen lässt.

Die Friedensbotschaft ist noch nicht verklungen

Münster hat im letzten Jahr mit einer großen Inszenierung den 375. Jahrestag des westfälischen Friedens gefeiert. Ein riesengroßes Publikum welches den Prinzipalmarkt flutete, zeigte, dass gerade in verstörend unfriedlicher heutiger Zeiten der Hunger nach pazifistischen Signalen wächst. Fritz Schmücker hatte dem Event die passenden Klänge gegeben. Unter anderem war auch der Drehleier-Virtuose Matthias Loibner mit von der Partie. Was lag also näher, als diesen idealistischen Impuls auch in die aktuelle Festivalausgabe hinein zu tragen, diesmal zusammen mit Michel Godard und dem schweizerischen Schlagzeuger Lucas Niggli. Auch diese beiden Musiker hat Fritz Schmücker eins als überraschende Premieren aus dem Hut gezaubert und beide sind seitdem immer wieder gern gesehen bei Münsters Jazzfestival. Hinzu kam jetzt noch die griechische Kanun-Spielerin Sofia Labropoulou, deren perkussive Saitenkunst ein hervorragendes Komplementär zu Loibners sphärischem Drehleier-Spiel wurde. Der ganze vielgestaltige Mix, zu dem mittelalterliche Melodien und später auch mal ein Schubert-Zitat gehört, baut maßgeblich auf der subtilen Klangmalerei von Schlagzeuger Lucas Niggli – genug Stoff zum Abtauchen und Wegträumen also im Zusammenwirken mit der prachtvollen Farbregie im Bühnenhintergrund des Münsteraner Theaters.

Ausgeschlafene Frische mit Spaßfaktor

Das Reizvolle an den kleinen Shortcut-Festivals mit drei Konzerten an einem Abend ist dieser kompakte Gleichklang aus musikalischen Eindrücken, die niemals zu viele werden und deshalb umso nachhaltiger wirken. In dieser Hinsicht war die Programmauswahl mal wieder auf den Punkt dosiert: Das dritte Konzert des Abends erteilte „dem Jazz“ in aufrichtiger Diktion und ausgeschlafener Klarheit das Wort und das mit riesigem Spaßfaktor. Die Pianistin Zoe Rahman und ihr Oktett sind ein neuer Export aus der umtriebigen britischen Jazzszene, der Bandname „Colour of Sound“ ist Programm. Zoe Rahman komponiert lyrisch mitreißende Stücke und soliert temperamentvoll auf dem Flügel. Das setzte genug motivierende Signale, um die hier versammelten, hervorragenden Solistinnen und Solisten auf Anhieb auf Wolke sieben zu katapultieren - etwa den Trompter Mark Armstrong, Posaunistin Rosie Turton oder den Flötististin Rowland Sutherland. Das wäre alles nichts ohne das fokussierte Schlagzeugspiel von Gene Calderazzo. Alle waren so tief in der Musik drin, so dass die Klangfarben strahlten, Ideen funkelten und Emotionen wärmten. Mit so viel musikalischer Lebensfreude darf ruhig mal ein neues Jahr zuversichtlich begonnen.

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