Samtene Revolution
“Velvet Revolution” auf der Burg Vischering
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Die Livekonzertsaison beginnt wieder - und alles fühlt sich neu, intensiv und ursprünglich an. Vor allem, wenn mit dem Trio Velvet Revolution eine der herausragenden Bands des europäischen Jazz den alten Rittersaal in der Burg Vischering in schillernde Klangfarben taucht.
Meditativ ist schon die Autofahrt durch friedlich grüne münsterländische Landschaft, zur Wasserburg Vischering vor den Toren von Lüdinghausen. Das Konzert musste zwar von der Open-Air-Bühne nach drinnen verlegt werden, aber das soll sich keineswegs als Nachteil erweisen - im Gegenteil, der alte Rittersaal (?) in diesem wohl tausend Jahre alten Gemäuer hat eine hervorragende Akustik. Über 100 Menschen zeigen beim langen, aber umständlichen Einlass-Procedere, was sie wollen: Live-Musik. Menschen auf einer Bühne. Im Backstageraum reden Daniel Erdmann, Saxofon, Theo Ceccaldi, Violine sowie Jim Hart über denselben Wunsch, welcher Publikum und Musiker eint: “Wenn dort keine Leute sitzen, gibt es unglaublich viel zu kompensieren" beschreibt Daniel Erdmann, wie die Energieströme ohne Publikum doch irgend gestört sind.
Kurz danach ist alles vergessen - und zwar sowas von. Von der farbenfroh ausgeleuchteten Bühne flutet echter, physischer, haptischer Klang. Gerade das Titelstück der aktuellen Platte “Won`t put my flags on me” gibt mit seiner minimalistischen Struktur genug Futter dafür, einen Sound zu entfalten, der jeder guten progressiven Rockband zur Ehre gereichen würde. Aber der - im Gegensatz dazu - keine Lautstärke und Kraftmeierei braucht, der subtil und leichtfüßig daherkommt, pure Emotion ausbreitet und in diesem mittelalterlichen Ambiente mit den Farben der sensibel dosierten Lichtshow synästetisch zusammenfließt.Linien bahnen den Melodien, die sich nie verzetteln, den Weg. Die beste Basis, um improvisatorische Steigerung zum Äußersten zu treiben. Ein solches Fokussiert- und Zentriertsein ist der gemeinsame Nenner.
Theo Ceccaldis Violine ist in diesem Trio das Epizentrum. Bzw. nicht das Instrument, sondern vor allem dieser ausdrucksstarke französische Musiker mit korsischen und nordafrikanischen Wurzeln, dessen Präsenz jedes Bandgefüge erdet und dessen Werkzeuge Violine und manchmal auch Viola sind. Und die er in einer dermaßen aufregenden stilistischen Bandbreite beherrscht, dass jede Lobeshymne von “einem der besten internationalen Jazzgeiger der Gegenwart” in diesem Moment wohl von jedem unterschrieben wird. Oft wird das kleine Streichinstrument zum perkussiven Motor, ja, ersetzt sogar phasenweise den Bass.
Daniel Erdmanns Sound ist unverkennbar, erzählend, zerbrechlich - und immer mit einer Prise Melancholie durchsetzt. Liegt dieser wiedererkennbare Zustand daran, dass sich Daniel Erdmann gerne von besonderen Filmen mit einem Hang zu ambivalenter Emotion inspirieren lässt? Die Tragikomödien von Aki Kaurismäki und vor allem Lars von Triers wunderbarer Endzeit- Parabel "Melancholia" standen als Inspirationsquelle für einige neue Stücke Pate. Auf jeden Fall haben ihm solche Qualitäten auch den Neuen Deutschen Jazzpreis beschwert.
Der dritte im Bunde ist der britische, heute im Elsass lebende Vibrafonist Jim Hart. Er steckt riesige, farbenreich mäandernde Klangräume auf seinem Vibraphon ab und reitet - auch wenn endlos viele Töne frei werden - unterschütterlich die gemeinsame emotionale Welle. Vieles kommt aus der zeitgenössischen europäischen Kunstmusik. Noch mehr fließen afrikanische Balafon-Stilistiken ein.
Aber die Haupt-Inspirtionsquelle bleibt bei allen dreien die eigene Fantasie, die an diesem Abend aus dem besonderen Moment und aus der Vorstellung eines verheißungsvollen Neubeginns reiche Nahrung schöpft.