Resonanzraum des Unerzählten
Julie Campiche solo im Kunstraum Norten
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Mit Julie Campiches Solo-Performance "Unspoken" setzte die Reihe FineArtJazz im Kunstraum Norten gleich zum Jahresbeginn ein unmissverständliches Zeichen für mutige Programmentscheidungen, um neue Erfahrungen zu ermöglichen. Umgeben vom tiefen Blau der Exponate von Roman Pilgrim, fand die experimentelle Klangsprache der Schweizer Harfenistin Julie Campiche einen idealen Resonanzraum - vor allem, als sich hier musikalische Innovation und gesellschaftliche Relevanz zu einer Einheit verbanden.
In der Stille des Konzertsaals beginnt Julie Campiche ihre Reise mit einem pochenden Herzschlag - Schläge auf den Korpus ihrer Harfe, die wie ein Puls durch den Raum fluten. Was folgt, ist eine bemerkenswerte Solo-Performance voll unmittelbarer Emotion: "Unspoken", eine tiefgründige Hommage an die Stimmen der Frauen, die zu lange ungehört blieben. Die frankoschweizerische Künstlerin hat sich von Virginia Woolfs zeitloser Beobachtung inspirieren lassen: "Ich wage zu behaupten, dass Anon, die so viele Gedichte ohne Unterschrift schrieb, oft eine Frau war." Dieser programmatischen Vision folgend, betrieb Campiche intensive Feldforschung, las sich tief in die Geschichten mutiger Frauen ein und suchte gezielt nach jenen Stimmen, die am Rand der Gesellschaft verstummen - von den Realitäten der Sexarbeiterinnen bis hin zu den heroischen Padronas in Mexiko.
Fantasievolle Emanzipation
Fantasievoll emanzipiert Campiche ihr Instrument von traditionellen Erwartungen. Mit präparierten Saiten erzeugt sie metallische Obertöne, die Fingertechniken reichen von sanften Glissandi bis zu perkussiven Clustern, oft auch in tiefsten Tonlagen. Das filigrane Zusammenspiel der beiden Hände schafft überraschende rhythmische Texturen - mal scheint die Harfe wie ein Percussion-Instrument zu pulsieren, dann wieder entstehen schwebende, fast orchestrale Klangflächen. In kunstvollen Überlagerungen musikalischer Ebenen, entstanden durch Loop-Techniken, entwickeln sich vielschichtige Klanglandschaften, die an die enigmatischen Soundwelten eines David Lynch Films oder erinnern. Beeindruckend ist dabei, wie organisch die elektronischen Effekte ins Spiel integriert sind - nichts wirkt aufgesetzt oder effekthascherisch, jeder Ton folgt einer inneren Notwendigkeit. Aus scheinbar einfachen Strukturen entwickelt sie dabei Spannungsbögen, vor denen es kein Ausweichen gibt.
Besonders berührend sind die Augenblicke, in denen Campiche die eigene Stimme einbringt - hauchzarte Vokalisen, die sich mit den Harfenklängen verweben. Die Stimme, mehrfach geschichtet und untermalt von geflüsterten Worten, schwebt engelsgleich über dem Ostinato des Instruments. Manchmal sind es nur einzelne Silben oder vokalähnliche Laute, die sich in den Loops übereinanderlegen, bis ein ganzer Chor imaginärer Stimmen den Raum füllt.
Nochmal zum Thema der Padronas: Gerade in einer Zeit, in der Rechtspopulisten das Thema Migration als Durchlauferhitzer für Stimmenfang instrumentalisieren, gewinnt einer der letzten Songs besonderes Gewicht. Die Frauen aus Mexico, die sich Padronas nennen schenken unter Einsatz ihres eigenen Lebens Flüchtlingen aus Mittelamerika Hoffnung und retten wohl manchmal auch das Überleben, wenn sie Lebensmitteltüten und Wasserflaschen zu jenen hinauf werfen, die auf ihrer gefährlichen Reise auf Güterzügen in die USA Hunger, Durst, kriminelle Banden und korrupte Polizisten fürchten müssen. Campiche übersetzt diese Szenen in die bemerkenswert reduzierte musikalische Sprache eines hauchzarten Songs: Auf einem pakistanischen Harmonium spielt sie wenige, sorgsam gewählte Töne, darüber legt sie ihren fragilen Gesang - eine leise, aber umso eindringlichere Hommage an Humanität.
„Unspoken“ wird vmtl. im Herbst als Album erscheinen
Während Campiches ausführliche Erläuterungen zu jedem einzelnen Stück zwar aufschlussreiche Einblicke gewährten, hätte sich die hypnotische Wirkung ihrer Klänge noch weiter vertieft, wären die Wortanteile zwischendurch etwas reduziert worden. Doch die tiefen Einblicke in ihre Motivation entschädigten für diese dramaturgischen Längen. Und ja: Das Publikum wurde an diesem Abend Zeuge eines Werks im Entstehen: "Unspoken" soll erst im späteren Verlauf des Jahres als Album erscheinen.
Vor dem Hintergrund von 480 tiefblauen Quadraten - sie stehen für die bislang vollendeten Lebensmonate des Gelsenkirchener Künstlers Roman Pilgrim - entfaltete sich dieses Solorecital. Pilgrim selbst betreibt auf anderen künstlerischen Wegen ebenfalls eine sehr persönliche Innenschau in Auseinandersetzung mit heutiger Wirklichkeit. KI erweist sich dabei als wunderbares Werkzeug: Seine in Bilderrahmen montierten, ehemals genutzten Mobiltelefone erwachen durch eine Kamera-App wieder zum Leben - vom legendären Snake-Spiel auf dem kultigen Nokia 3210 bis hin zum letzten Telefonat, welches Pilgrim, Jahre später über ein „Blackberry“ mit seinem Vater führte. Aber was wird aus unserer Wirklichkeit und aus unserer Geschichte, wenn immer mehr Rechenalgorithmen Erkenntnismacht versprechen oder vorgeben: "on this day", "follow me", "delete history"? Schauen wir, was die Zukunft bereit hält.