Phantome in der Einsamkeit
Jens Thomas und Matthias Brandt ließen den Dämon sprechen
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Erstmals wurde das Marler Theater Spielort der Konzertreihe FineArtJazz. Und was für ein Debüt! Schauspieler Matthias Brandt und Pianist Jens Thomas brachten mit »DÄMON« ein Stück auf die Bühne, das die Verbindung von improvisierter Musik und Theater neu definierte, eben weil es die Grenzen zwischen den Kunstformen konsequent aufhob. Da entfaltete der Sprachfluss des Schauspielers einen musikalischen Sog und begann die Musik des versierten Jazzpianisten zu sprechen. Das war nicht mehr länger eine Addition zweier Kunstformen, sondern echte, tiefe Symbiose.
Abstieg in den Wahnsinn
Guy de Maupassants Novelle »Le Horla«, geschrieben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist ein Psychogramm in Tagebuchform. Ein namenloser Mann protokolliert seinen psychischen Abstieg, der mit Wahnvorstellungen, Erinnerungsverlusten und Schlaflosigkeit einhergeht. Was bleibt, ist das Gefühl, von einem unsichtbaren Dämon besessen zu sein. Ein harmloses Fieber mündet in die vollendete mentale Katastrophe. In einer Art Verzweiflungsraserei fackelt der Leidende schließlich sein eigenes Haus ab, um den vermeintlichen Dämon zu besiegen.
Das Klavier als sprechender Partner
Matthias Brandt, der zur allerersten Schauspielerliga gehört und gerade noch bei den Ruhrfestspielen bleibende Eindrücke hinterließ, brachte diesen verstörenden Monolog mit ganzer darstellerischer Wucht auf die Bühne. Der Schauspieler, der unter anderem das Berliner Ensemble zu seiner Bühnenheimat zählt, steigerte seine Stimme in Crescendi, schwang sich zu maximaler Dichte auf. Wie ein symbiotisches Komplementär funktionierte Jens Thomas' pianistische und auch stimmliche Reaktion darauf, die weit über reines, wohlgemerkt meisterhaftes Klavierspiel hinausging. Der Pianist hat ein bemerkenswertes Buch über die Kunst des aktiven Zuhörens geschrieben. Hier demonstrierte er, wie er all diese Erkenntnisse auf einer Bühne live und in Echtzeit umsetzt. Was Thomas am Klavier, aber auch mit seiner Stimme lieferte, war Einmischung, Antwort, Widerrede. Das hieß auch manchmal, sich klug zurückzunehmen und damit zugleich die Spannung auf die Spitze zu treiben. Während Brandt seinen Redefluss dringlicher werden ließ, hielt sich Thomas mit subtilen Klangaktionen im Hintergrund. Dennoch schöpfte sein vielschichtiger Spielfluss mit ständigen Dynamik- und Klangwechseln das gesamte Spektrum des Instruments aus – auch, natürlich auch, indem er mit den Händen direkt an den Saiten arbeitete. Je nach Emotion des Moments konnten das Tonfolgen in traurigem Moll sein, aber auch verstörende Dissonanzen als Leitmotiv der inneren Bedrohung. Manchmal brach Thomas in kuriose, manchmal schrille Toncluster aus. Bis sich schließlich alle aufgestauten Emotionen in einen Klangozean stürzten, der auf dem Steinway ins Tosen und Aufbrausen geriet. Auch sang er, oft mit Falsettstimme, die durchaus etwas gewöhnungsbedürftig wirkte, deren Musikalität man beim vorbehaltlosen Hineinhören aber umso tiefer spüren konnte. Hochmusikalisch ist nun mal oft das Gegenteil von gefällig. Zudem kommentierte Jens Thomas durch eigene Songs das Geschehen, fast wie der Chor im antiken Drama.
Das Theater als heilender Ort
Und ja: Diese intensiven, schließlich mit stehenden Ovationen gefeierten 75 Minuten öffneten Ohren und Geist für den aufklärerischen Mehrwert, der von echter Literatur ausgeht. Guy de Maupassants Text schildert nicht nur einen individuellen Ausnahmezustand, er wirft auch aufschlussreiche Schlaglichter auf den geistig-philosophischen Kontext im 19. Jahrhundert. Damals hatte der totale Wissenschaftsglaube noch nicht seinen Siegeszug angetreten, zugleich gab es viele Errungenschaften, die heute den Menschen helfen, noch nicht. Kann der Mensch überhaupt das Mysterium seiner Existenz fassen? Der imaginäre Dämon im Kopf des unglücklichen Protagonisten beweist, dass diese Frage offen bleibt.
Andere Sätze, die eher zum „Randgeschehen“ in Maupassants Schilderung gehören, sind noch viel mehr für das Heute relevant. So gesteht der Protagonist einem gerade erfolgten Theaterbesuch etwas Linderndes, ja Heilendes zu. "Dieser regsame und kraftvolle Geist machte mich wohl vollends gesund", protokollierte er hoffnungsvoll in Bezug auf die Wirkung dieses Erlebnisses, vor allem, weil es ihn aus der einsamen Isolation zu Hause befreit hatte. Sein Fazit: "Wenn wir lange allein sind, bevölkern wir die Leere mit Phantomen."
Wie symbolträchtig in Bezug auf die humanistische, ja auch gesellschaftlich heilende Rolle von Kultur ist das denn! Das Theater als Ort der Gemeinschaft und Schutzraum gegen jene Phantome, die wir in der Einsamkeit produzieren, weil eben hier "regsame und kraftvolle Geister" stärker sind als jeder Dämon, der in der Isolation einen verhängnisvollen Nährboden vorfindet. Dieser Abend wird lange nachklingen.