Peter Brötzmann zum 75. Geburtstag
Zeitloser Avantgardismus
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Peter Brötzmann wird heute 75 Jahre alt, nrwjazz beglückwünscht einen der sicherlich international bekanntesten deutschen Jazzmusiker, den Gründer- und Ziehvater des deutschen und europäischen Free Jazz (auch wenn das Etikett verwittert ist), den sicherlich exponiertesten Vertreter der Improvisationsmusik aus NRW.
Wie eigentlich nicht anders zu erwarten, begeht der Meister der freien Musik, der Spontankomposition, seinen Geburtstag auf der Bühne: Als Auftakt einer 5-Nächte-Tournee in Polen vom 06. bis zum 10.03. 2016 spielte Peter Brötzmann vor seiner Abreise in seiner Wahlheimat Wuppertal im Café Ada mit seinem neuen Quartett: aus Großbritannien dem Schlagzeuger Steve Noble und dem Bassisten John Edwards sowie dem amerikanischen Vibraphonisten Jason Adasiewicz.
Das Konzert im Café Ada besteht aus einem Set, es beginnt mit einem fanfarenhaften Aufschrei des Tenorsaxophons, das Quartett geht gleich vom Start weg in die Vollen: Eine schnelle, hochenergetische Reise beginnt, von der Rhythmus-Sektion getragen. Jason Adasiewicz erzeugt mit seinem Vibraphon eine verstörende Gegenwelt zu dem Sax-Gewitter. Nach drei Minuten erfolgt eine erste angedeutete Verschnaufpause von dem Powereinstieg, das Trio macht zunächst ohne Brötzmann weiter, bis dieser wieder einsteigt und munter zum vorwärtstreibenden Rhythmus von Drums, Kontrabass und einem Klangräume setzenden Vibraphon Tonkaskaden freilässt. Nach kürzerer Zeit kommt die Reise wieder ein wenig zur Ruhe, es verbleibt die fordernd-expressive Stimme des Saxophons, von ein paar Klangtupfern auf den Metallplatten unterstützt, die in ein kleines interaktives Intermezzo von Bass und Vibraphon mit hochfrequentem gestrichenen Metall übergeht. Es folgt ein Sammeln, ein Tasten der vier Musiker nach einem Neuansatz, in das Peter Brötzmann mit dem Tarogato einsteigt. Auf einer durchgehenden rhythmischen Spur von Drums und Kontrabass und in Ansätzen auch des Vibraphons spielt Brötzmann im oberen Register seines Blasinstruments furiose Läufe. Gongartige Töne des Vibraphons markieren einen Wendepunkt, gefolgt von nahezu melodiösem Glockenspiel, das von nervösem Schlagzeug und Bass „begleitet“ wird und Adasiewicz in ein perkussives Spiel auch auf seinem Instrument überführt, wobei seine schnellen Akkordschläge mit viel Pedaltechnik moduliert werden. An diesem temporeichen Spiel beteiligt sich dann das Tenorsax, das sich in hyperschnellen Läufen zum Höhepunkt, zu einem hymnisch exklamierenden Schrei steigert. Es folgt ein Wechsel zu einer ostinaten Interaktion von Steve Noble, John Edwards und Jason Adasiewicz, die ein kurzes Aufatmen bedeutet. Brötzmann steigt wieder ein, dieses Mal mit der Bassklarinette mit sonorem Ton. Die anderen Instrumente stellen sich darauf ein und justieren sich gewissermaßen neu an der tiefen Leitstimme. Allmählich ist eine Klimax spürbar, bei der sich die Bassklarinette im hohen, überblasenen Register expressiv austobt. Es folgt eine Sequenz mit einem ostinaten Muster vom Vibraphon und dem gestrichenen Bass, der Klangmodus gemahnt an fernöstliche Spielweisen. Schließlich sind in der Interaktion von Vibraphon und Bass im vorwärtstreibenden Rhythmus „jazzige“ Elemente erkennbar, diese „jazzige“ Phase mit immer versponneren Akkordskizzen von Adasiewicz wird durch ein brachial einsetzendes Tenorsax abstrakt überhöht. Steve Noble und John Edwards halten eine gewisse rhythmische Struktur, auf der sich ein ekstatischer Dialog von Vibraphon und Saxophon entwickelt, der in ein „Solo“ von Adasiewicz mündet. Mit einem lang anhaltenden Ton bringt sich Brötzmann in einen Dialog ein und bläst auf „gerader“ rhythmischer Grundlage eine Sequenz, die den Charakter von einer Schlangenbeschwörung hat.
Die ca. 12-minütige Zugabe hat ein gänzlich anderes Intro als das Hauptset: Adasiewicz streicht mit dem Bogen die Metallstäbe des Vibraphons, im hohen Frequenzbereich entsteht eine geheimnisvolle Schwebe, unterstützt vom Dauergrummeln des Schlagzeugs, in das Brötzmann sein immer lauter und schriller werdendes Tarogato einbringt. Ein sich steigernder tanzähnlicher Takt bringt das Quartett zusammen, bis ihr gemeinsamer Ton allmählich verschwindet.
Ein atemberaubendes Konzert, was nicht nur dem Altmeister des anarchisch-teutonischen Vitalismus’ geschuldet ist, sondern auch seinen Mitspielern, die eine ausgesprochen dichte musikalische Interaktion, ein hochenergetisches Powerplay realisieren, das nicht nur aus Phasen des Fortissimo besteht, sondern auch aus ebensolchen eines geradezu zärtlichen Herantastens - horribile dictu für den anarchischen Kämpen. Herausragend dabei ist die Rolle von Jason Adasiewicz, der sein Instrument mit Schlägeln, Bogen, Metallstange schon exzessiv malträtiert, der jedoch damit auch einen stellenweise feinziselierten klanglichen Counterpart zur Brötzmannschen Expression schafft. Das Publikum jedenfalls hört dem mit offenen Ohren zu, was einmal Skandalon mit aggressiver Schärfe und gezielter Tabubruch war, sich heute als vielleicht zeitgemäßes Klangexperiment, als zeitloser Avantgardismus erweist. Peter Brötzmann hat auch mit 75 Jahren nichts von seiner performativen Kraft – auch im physischen Sinne – und seinem künstlerischen Sonderstatus verloren. Herzlichen Glückwunsch!