ohne zentrum, aber künstlerisch zentriert
Zwischenbericht aus Bozen
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper, Ralf Dombrowski
Das Publikum schwebt in einem kleinen Sessellift durch den Wald, während Musikerinnen und Musiker des niederländischen Brainteaser Orchesters aus verschiedenen Positionen wechselnde Klangstationen liefern – dieses Passieren im Schwebezustand wurde beim Südtirol Alto Adige Festival zur assoziativen Reise aus Musik, Naturgeräuschen und Bergakustik. Die Natur als Konzerthalle, die Landschaft als Instrument. „Floating Through Sound" lautete der Titel dieses besonderen Konzertevents, die in dieser Form ja sowas wie die DNA dieses Festivals verkörpern.
Eine lebendige Gegenwart eines Festivals lebt von der Tugend, aus wechselnden Rahmenbedingungen immer wieder das beste rauszuholen. Auch in diesem Jahr ist mal wieder alles anders geworden, da der Kapuzinerpark, in den letzten Jahren der Hauptspielort als Zentrum weichen musste. Deswegen ist jetzt wieder Rückbesinnung angesagt: Zwischen historischen Festungsmauern, malerischen Stadtplätzen und Instagram-gehypten Bergseen entfaltet sich eine Rückbesinnung auf Klaus Widmanns ursprüngliches Konzept, die weitläufige Erkundung der Region.
Franzensfeste, früher Nachmittag. Die mächtige Festung reckt sich aus der Landschaft. Zwischen ihren jahrhundertealten Mauern staut sich die Hitze wie in einem Backofen. Man möchte sich in den Schatten legen. Aber bei der Wiener Band Purple Muscle Car ist von Hitzekoma keine Spur. Diese Musik an diesem Ort klingt genauso muskulös, wie es der Name suggeriert. Wiener Elektronik-Underground mit fettem Synthie und quirlig gebrochenen Schlagzeugbeats – dazu ein dichter, manchmal sich allzu hyperaktiv gebärdender Bläsersatz, bei dem vor allem das virtuose Saxofon mit Tönen nie geizt. Das kann einem den Rest geben unter diesen Bedingungen – aber wichtiger noch: So klingt der hungrige Geist einer nimmermüden europäischen Szene – auch und gerade an diesem Ort, an einst k.u.l.Soldaten patroullierten.
Jazz aus Bozen vs Jazz in Bozen
Auch nach dem Wegfall des Kapuzinerparks, der vier Jahre lang dem Festival eine neue – und vor allem publikumswirksame - Zentriertheit gab, möchte Jazz aus Bozen auch Jazz „in“ Bozen bleiben. Ein Bilderbuch-Sommerabend auf der Piazza Walter ist fast schon wie im Märchen: Freiluftsitzreihen füllen sich mit dem abendlichen Flanierpublikum, viele junge Menschen bevölkern den Brunnen - und lassen sich langsam in die große Sache des Jazz hineinziehen, die sich weniger nur Untermalung ist.
Denn Stephane Gallard and the Rhythm Hunters – eine französisch-belgische Formation – weiß, wie man einen solchen Ort bespielt, dass es funktioniert und sich für alle gut anfühlt: Dieser Jazz ist groovig, lässig, authentisch und braucht keine avantgardistischen Verrenkungen. Als leuchtender Stern ist da der junge Tenorsaxophonist Pierre-Antoine Savoyat, bei dem jeder Ton dafür spricht, dass er sich beim Studium in New York an den richtigen Quellen bedient hat. Saxophone – diese lauten, durchdringend präsenten Instrumente brauchen Raum und Luft, damit dieser potente Klang nicht alles durchschneidet, sondern zu atmen beginnt. Das Freiluft-Setting auf der Piazza bietet genau das, um seinen Höhepunkt in einem hymnischen Solo und später in Coltranes „Afro Blue" als Zugabe zu finden. Hoch oben auf den Bergen brennt ein riesiges Feuer – kein Waldbrand, sondern Brauch zur Sommersonnenwende. Die Flammen tanzen, während unten auf der Piazza die Instrumente singen. Es ist Sommer – mit allen Ausrufezeichen!
Familiäre Kooperationen sind Überlebenselixer für die Kultur
Jazz ist auch in Italien eine Minderheitenangelegenheit. Wenn die Stadtgesellschaft im Kapuzinerpark etwas Neues bauen will, hat auch ein internationales Festival keinen Platz mehr dort. Also braucht es neue Kooperationen für eine nachhaltige Verankerung:
Familiär wirken die vielen neuen Kooperationen mit Menschen, die interessante Spielorte anbieten und idealerweise auch Jazzfans sind. Einer dieser Orte ist ein kleines Yoga-Studio mitten in der City, direkt neben einem Antiquitätenladen – perfekt für eine neue Duo-Reihe: Zwei Musikerpersönlichkeiten, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, werden aufeinander losgelassen. In diesem Fall die Leipziger Posaunistin Antonia Hausmann – eine starke Stimme auf diesem Instrument – zusammen mit der Kontrabassistin Marion Ruault.
Beide zelebrieren eine Sternstunde eines melodiösen, traumverlorenen Kammerjazz. Faszinierend ist Hausmanns spielerische Präsenz und ihre Gabe, mit ihrem Instrument einen komplexen Rahmen abzustecken, auf dass lange Melodiebögen eine tiefe narrative Kraft entfalten. Eine bessere Einladung zum Träumen gab es an diesem Vormittag kaum. Sogar die in Bozen allgegenwärtigen Spatzen reagierten draußen auf die Musik und stimmten ihre „Einsätze" darauf ab.
Postkartenidyllen entzaubern
Die Verteilung der Programmpunkte auf so viele Orte und Regionen ist sportlich geraten. Mancher Konzertbesuch kann zum Tagestrip ausarten – fürs Publikum stehen aber Shuttle-Busse für die weiten Exkursionen bereit. Neu im Portfolio ist das ehrwürdige Grandhotel am Pragser Wildsee, der bekanntlich zu einer der gehyptesten globalen Spots der Instagrammer-Gemeinde geworden ist.
Aber an diesem Vorabend, an dem eine der berüchtigten Gewitterfronten die Postkartenidylle pulverisiert, strahlt dieser Ort vor seiner mächtigen Bergkulisse in regenschwerer Luft eine andere, ernste Würde aus. tiefe Abgeschiedenheit aus. Ein Nebengebäude des Hotels wurde zur Konzertlocation. Hier gibt sich wieder Antonia Hausmann die Ehre, diesmal mit ihrem eigenen spielfreudigen Quartett. Hausmann hat das Sagen auf ihrem Instrument, auch mit ihren Kompositionen, zu denen sie sich durch persönliche Empfindungen und Reflexionen über ihr Dasein inspiriert fühlt. Der stille, dunkle, tiefe See draußen erinnere sie an den Vierwaldstättersee, dessen Kulisse sie so lange vor Augen hatte – als sie bei Nils Wogram in der Schweiz studierte, eine Referenz, die in ihrem zupackenden Spiel auf jeden Fall hörbar ist. Die Welt ihrer Band ist betont freundlich und mit verspielten solistischen Kapriolen seitens aller Beteiligten. Irgendwie schwingt da auch wieder diese neue Innerlichkeit vieler junger Jazzbands, die manchmal auch etwas von Weltflucht hat.
Festivalauftakt als kreative Spielwiese
Vor allem das Auftaktwochenende ist unter dem jungen Festivalteam zur neuen, kreativen Spielwiese geworden, vor allem der Eröffnungsabend trug eine solche Handschrift im NOI Techpark. Wo früher Industrieroboter ihre monotonen Kreise zogen, lieferte das Industrial Echoes Sextett eine Antwort aus dem Heute. Vor allem die Niederlande sind Schwerpunkt-Thema beim diesjährigen Festival. Auf dem Techpark-Gelände dirigierte Tijs Wybenga, ein niederländischer Tastenzauberer und Komponist, sein Brainteaser Orchestra durch ein Set, das alle Erwartungen pulverisierte. Elf Musiker aus sieben Ländern, die meisten Absolventen des Amsterdamer Konservatoriums, stützten sich mit Neugier und künstlerischem Heißhunger auf Wybengas großformatige Kompositionen. Wer der Hitze entfliehen wollte, durfte dies beim Einfahren in einen alten Bergwerksstollen tun: Der niederländische Ausnahmegitarrist Reinier Baas erforschte in der unterirdischen Kühle die klanglichen Grenzen seines Instruments. Von raffinierten Jazzstandards bis zur freien Improvisation reicht die riesige Palette und noch Tage später war es Gesprächsthema im Publikum, wie die Stollen-Akustik aus jedem Ton ein kleines Wunder gemacht hat. Das stellt auch wieder die kuratorische Konsequenz der Bozener Festivalmacher klar: Bei der Auswahl der Locations geht es nie um Event-Gimmicks – es kommt darauf an, was künstlerisch Sinn macht.
Viele weitere Überraschungen und Musikerlebnisse folgen noch, bis das Festival am Sonntag, 6. Juli, mit einer Closing Party in der kultigen Batzen-Brauerei seinen Abschluss findet.