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No border für JOE

Essener Festival pflegt künstlerische Konsequenz

Essen, 23.01.2018
TEXT: Peter E. Rytz, Stefan Pieper | FOTO: Peter E. Rytz, Stefan Pieper, Bernd Zimmermann

Beim Festival der Jazzoffensive Essen geht es um alles andere, nur nicht um das risikoscheue Aufpolieren des längst Bekannten und Gefälligen. Entsprechend viel mutige Konsequenz wiederspiegelte die aktuelle Festival-Ausgabe – zumal die künstlerischen Ansätze von Musikern aus der Gegenwart keine Grenzen zu kennen scheinen! Nrwjazz war gleich mit mehreren aufmerksamen Beobachtern vor Ort...

Tag 1: Stormy weather (Peter Rytz)

Das Sturmtief Friederike, das am 18. Januar 2018 ganz Deutschland heimgesucht hat, hat auch das Programm des 22. JOE Festival Essen durcheinander gewirbelt. Zum Glück nur die geplante Reihefolge der Acts.

Die Band Fly gibt ihrem Name an diesem Tag eine doppelte Bedeutung. Verspätet, letztlich aber glücklich und fast pünktlich von Mailand kommend in Düsseldorf gelandet, fliegen Mark Turners knackige Saxofonlinien zusammen mit den dichten, wilden Bass- und Drum-Rhythmen von Larry Grenadier und Jeff Ballard, wie ferngesteuert durch einen pianolosen Jazz-Kosmos.

Ihrem demokratisch kollektiven Selbstverständnis folgend, deklinieren sie groovend in temperierten Quinten ihren enharmonisch strukturierten Sound. Festgefügt im Vertrauen aufeinander, temporär aufgelöst in improvisierten Ausbrüchen, formiert das Trio ihre Sets zu einem griffigen Jazz.

Das rhythmisch ausbalancierende Schlagzeug Ballards rahmt häufig Grenadiers balladeskswingende Bass-Pattern und bindet sie mit Turners melodischen Saxophon-Arabesken zu energiegeladenen Songs. Melodische Motive werden alternierend von Saxophon, Bass oder Schlagzeug angestimmt; gemeinsam finden sie sich immerwieder in einem typische Turner-Grenadier-Ballard-Jazz-Line seit mehr als 15 Jahren zusammen.

Bevor FLY mit ihren Jazz-Flugkünste das angestammte Publikum im Katakomben-Theater auf ihren Flügeln mitgenommen hat, eröffnet Philip Zoubek mit einem Solo am präparierten Klavier das JOE-Festival. Er spielt es als

Hommage á John Cage. Mit Holz- und Gummimaterial, Nägeln, Papierstreifen pärperiert Zoubek ausgewählte Stellen der Saitenchöre seines Klaviers. Sowohl klassisch auf der Klaviatur spielend, als auch mit einem Holzstiel oder Klöppel die Saiten anschlagend, erzeugt er Klänge, die mit flageoletähnlicher oder perkussiver Anmutung an zen-buddhistische Gamelan-Musik erinnern.

Daniel Bodvarsson und Max Andrzejewski zeigen ihren Vorgängern dieses Abends ihre Pranke. Der Name des Duos ist selbst schon eine Kampfansage. Mit der Siegergebärde eines Boxers werfen sie sich in den Ring des Katakombentheaters. Gitarre, Schlagzeug und Syntheziser tönen straight ahead ohne wenn und aber kampfbetont. Auch ihr Gesang verzeiht nichts. Selbst Rock-Balladen-Zitate werden ihnen zu einem emblematisch derangierten Sound-Overkill.

Tag 2: Imaginäres Theater (stefan pieper)

War es am ersten Abend der Sturm, so prägte am zweiten Abend eine große „Konkurrenzveranstaltung“ in der Philharmonie die etwas ungünstigen Rahmenbedingungen fürs „JOE“-Festival. Also war es am zweiten Abend etwas leerer im Katakombentheater - das allerdings war einer konzentrierten Ruhe durchaus förderlich, welche zwei besonders fragilen „Klangereignisse“ zugute kam.

Da zelebrieren der Berliner Niko Meinhold und der Amerikener Christopher Williams alles erdenkliche, was eben nicht zum „normalen“ Musizieren Kontrabass und Konzertflügel gehört. Im zarten Miteinander oder Gegeneinander werden zarte, oft geräuschhafte Aspekte ausgekostet – aber auf Anhieb wird klar, dass diese beiden Künstler mit so etwas eine höhere Daseinsebene im Sinn haben. Ja, die gestenhafte Rhetorik, zu der auch Textfragmente und das immer wieder eingestreute Klackern von drei Würfeln gehören, lassen fast so etwas wie ein imaginäres absurdes Theaterstück assoziieren. Niko Meinhold greift auf einschlägige Quellen zurück für solche Performance-Kunst: So partizipiert er regelmäßig im westafrikanischen Gabun an nur scheinbar archaischen, aber im Kern doch hochkomplexen Meditationsritualen. Sie bestätigen einmal mehr das, was auch Albert Schweitzer an diesem Ort erfuhr und weitergab: Musik als Kraftquelle, die Humanität spendet. So etwas übersetzen Niko Meinhold und Christopher Williams in ein eigenwilliges, subtiles Spiel mit Gesten, Klängen und manchmal auch Worten. Die Erkenntnis: Das „normale“ Bewusstsein greift meist nur auf einen verschwindend geringen Teil sämtlicher potenziell vorhandener Ressourcen zurück – auch beim Erzeugen und Erleben von Musik.

Ein anderer arbeitet sich kurzweilig vor allem an den digitalen und analogen Geräuschwelten der alltäglichen Umgebung ab: Achim Zepezauer s „Tischlein Elektrisch“ ist eine bunte Spielwiese aus Alltagsgegenständen, unter anderem analoge Casettenwalkmen und Analagplattenspieler. Das ist gut für assoziative Soundcollagen, die zwar nicht mehr unbedingt den neuesten State of the Art repräsentierten, aber doch mit allerhand unterhaltsamen Gimmicks aufgepeppt sind - vor allem mit einer kleinen Märchenrezitation aus der Tierwelt.

Schließlich tritt einer der künstlerischen Leiter, der Saxofonist Christian Ugurel mit einer eigenen Band ins Rampenlicht. Die hat er bei einem mehrjährigen Studienaufenthalt in Barcelona lieb gewonnen und kreativ mitgestaltet. Spürbar ist, dass im Spiel der vier auch viele Erinnerungen an ausgelassenes inspirierendes Miteinander leben. Was er, zusammen mit zwei Gitarristen und dem Schlagzeuger Jorge Rossy aufbietet, sprüht vor gelebter musikalische Fantasie und tiefer Empfindung. Zwei, sich kraftvoll „duellierende“ elektrische Gitarren liefern das Fundament, dazwischen verschaltet der Schlagzeuger Jorge Rossy die Prozesse, während sich Christian Ugurel als empfindsamer Melodiker im Zentrum zeigt. Aufregende Spannung entsteht durch raffinierte Rubato-Effekte in der Rhythmik – und es standen die Klangfarbenmelodien eines Olivier Messiaen oder die Breitwandpanoramen eines Richard Strauss Pate.

Tag 3: The Special fine art of jazz (Peter Rytz)

Der Kontrast zu den ekstatischen Free-Ausbrüchen von Pranke und Walter/Parfitt/Hirt oder der selbstreferentiellen Elektronik-Überdehnung von Achim Zepezauer , die jedes Jahr ein programmatisches Anliegen der JOE-Macher zu sein scheint, malen Gebhard Ullmann und Almut Kühne poetisch minimalistische Klangskizzen. Ullmanns Saxophon und Bassklarinette modulieren mit dem klassisch ausgebildeten Koloratursopran von Kühne grandiose Klanglandschaften. Ob Scat-Improvisationen, Jazz-Standards wie I’ll Be Seeing You oder Voice solo mit Voyage steckt Kühne ein weites Panorama feinnerviger Musikstrukturen ab. Ihr steht Ullmann mit seinem Saxophon-Solo Upper Rd nicht nur nicht nach. Er paraphrasiert kreativ sein eigenes musikalisches Repertoire. Kühnes wunderbar reine Tonbildung findet insbesondere mit dem sonoren Klang von Ullmanns Bassklarinette eine kongeniale Ergänzung: The special fine art of Jazz.

Als Ross Parfitt nach einem sich bedeutungsschwanger gebenden elektronisch verzerrten Klanggeflacker der Gitarre von Erhard Hirt und dem Atem gepressten, überblasenen Saxophontönen von Florian Walter sein Drum-Set zerlegt und aus den Materialresten fahl aggressives Tonlicht aufblitzt, versinkt ihr Jazz-Koordinatensystem in einem apotheotischen Niemandsland.

Ähnlich hochmögend die Pose von Killing Popes, den Papst - als Gallionsfigur des Konservativen? – symbolisch zu töten. Nur verlaufen sie sich leider in ihren - wie es im Faltblatt vollmundig formuliert wird - hochkomplex durchkomponierten musikalischen Wutausbrüchen. Wut allein ist keine konstruktive Perspektive. Nicht nur in politisch missverstandenen, bürgergesellschaften Artikulationen, auch im Jazz.

Drei JOE-Tage zu Beginn des Jazz-Jahreskalenders setzen auch 2018 wieder dezidierte Akzente. Sie sind eine Plattform für besondere Töne, Misstöne inklusive.

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