Nichts als Weinstöcke !?! – Metamorphosen im Weinberg
Misterioso - Don't explain
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Weinstöcke und Jazz? Was hat das miteinander zu tun? Die großen Jazzer waren doch für andere Drogen bekannt. Doch darum ging es auch nicht bei der Großbild-Projektion in der artSPACE-Reihe im Bochumer Planetarium.
Heinrich Brinkmöller-Becker, bekannt vor allem für Fotos von Jazz-Musikern und Theateraufführungen, präsentierte am 16. Juni Fotos von Weinstöcken, die er seit vielen Jahren in verschiedenen Weinbergen Europas aufgenommen hat. Der Clou besteht darin, dass man bei der Betrachtung dieser Fotos unwillkürlich Gesichter oder gar ganze Körper zu erkennen glaubt. Ähnliches kennt man von den ‚Kippfiguren‘ wie dem ‚cup or faces paradox‘ (s. Bild unten rechts), die man durch Umorganisation der eigenen Wahrnehmung ganz unterschiedlich sehen kann.
Die Show ist nicht auf reine Unterhaltung ausgelegt, sie intendiert auch ein ‚kunst- und wahrnehmungspsychologisches Experiment‘. Zwar hat der Fotograf durch Auswahl und Perspektive bereits eine Interpretation des knorrigen Holzes des Weinstocks geliefert, der Betrachter im Planetarium kann aber diese Sicht wiederum auf seine Weise nachvollziehen oder auch verändern. Genau darum geht’s und interessant wäre, die unterschiedlichen Sichtweisen des Publikums am Ende der Veranstaltung abzufragen und zu vergleichen.
Wichtiger für nrwjazz ist allerdings die musikalische Begleitung der Show. Klar war, es muss Jazz sein. Dazu wurden Stücke gesucht, die thematisch oder vom Sound her zu den Bildern passen. Ebenso wiebei den ca. 600 Fotos wurde die Reihenfolge der 13 Stücke dem Zufall überlassen. Es handelt sich ausschließlich um instrumentale Stücke, denn Texte würden ablenken oder die eigene Wahrnehmung zu stark beeinflussen.
Misterioso von Thelonious Monk – schon der Titel sagt alles. Danach wurde schon ein Krimi von Arne Dahl benannt, aber die Musik passt auch ausgezeichnet zu den bizarr – unheimlichen Rebstock-Fotos, zumal in der Interpretation von Carla Bley und Andy Sheppard. Bei manchen Fotos können auch die schrill eiskalten Töne der Trompete von Miles Davis (Chez le photographe du motel vom AlbumAscenseur pour l’échafaud) das Gruseln verstärken.
Noel Akchoté hat auf seiner Gitarre mit Body and Soul, die Intention der Show auf den Punkt gebracht. Seine verfremdete Version des Stücks gibt genau die Stimmung wieder. Man erahnt/phantasiert/befürchtet eine Seele hinter der Physis der Rebstock-Bodies. Doch allzuviel nachdenken soll man dabei auch wieder nicht, sagen uns Heinz Sauer und Michael Wollny in ihrer Fassung von Don’t explain.
Aber warum eigentlich Jazz? Wäre Klassik nicht geeigneter? Und was verbindet die ‚mysteriöse‘ Musik und die skurrilen Fotos? Beide lösen offenbar ähnliche Gefühle aus.
Ich glaube Jazz ist hier genau richtig, weil es dem Betrachter genug Spielräume lässt. Jazz ist geprägt von Improvisation, von Offenheit, da weiß man nicht immer genau wo es hin geht, jedes Solo kann neue Wege eröffnen, kann neue Spiel- und Hörweisen erschließen. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Wahrnehmung und Interpretation der Rebstock-Fotos.
Für diejenigen, denen das alles zu schnell ging, beginnt am Freitag, 20.11.20 um 18 Uhr eine Ausstellung mit diesen Bildern in der Bochumer Stadtbücherei. Thomas Anzenhofer wird mit seiner „Weinlese“ die Ausstellung eröffnen. Dort hat man auch Zeit einzelne Fotos in aller Ruhe genauer zu betrachten.
‚cup or faces paradox‘: GNU Free Documentation License
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cup_or_faces_paradox.svg