New Colours Festival 2023
Nachlese volume 2 und Fazit
Gelsenkirchen, 19.09.2023
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Es gibt diese singulären, elementaren Momente auf guten Festivals, an die man sich lange erinnert. Einer davon passierte auf dem New Colours Festival beim Konzert von Kit Downes in der Sonnenlicht durchfluteten Matthäus-Kirche: Im Laufe der Erkundungen der klanglichen Möglichkeiten der Schuke-Orgel hörte es sich plötzlich so an, als würde ein Mensch mit zartem Atem in eine Rohrflöte oder ähnliches hineinblasen. Neues entsteht, wenn man sich nur sensibel genug, forschend und kreativ mit Möglichkeiten auseinandersetzt, die immer und überall schlummern. Ähnlich wirkte das surreale Abwärtsglissando, als Kit Downes mitten im Spiel der Orgel den Luftstrom abdrehte, sodass die Luftsäulen in sich zusammensackten. Aber der Brite wuchs auf Anhieb weit über das Stadium des reinen Effekts hinaus, indem er alles zu einer lyrischen, tief persönlichen Gesamtaussage formte.
Genau wie (bislang) der Kapuzinerpark beim Alto Adige Festival hat auch New Colours sein "Wohnzimmer": Es ist das prunkvolle Schloss Horst. Mit viel Platz fürs Publikum, vor einer stilvollen, fast antik wirkenden Kulisse, die so ganz dem speziellen Ruhrgebiets-Charme eine prachtvolle Antithese liefert. Drei Bands, die drei Mal völlig unterschiedliche Aspekte von Gegenwartsjazz verkörperten, bestimmten den Samstagabend bei New Colours. Zum einen das junge belgische Trio "Dishwasher". Hier sind drei junge Menschen eben vor allem durch Alternative-Rock, elektronische Beats und Hiphop und eben nicht durchs American Songbook sozialisiert worden und zeigen dies auch. Eben unter dieser Maxime spülten "Dishwasher" die Gehörgänge ihres Publikums treibend und hypnotisch frei. Das coolste dabei ist auf der elektronisch manipulierte Saxophonsound von Werend van den Bossche - ein neuer Nils Petter Molvaer des Saxofons aus Belgien.
Ein Hauch von sakraler Aura
In eine Art schwarzes Mönchsgewand gekleidet, verbreitete danach der Norweger Marius Gjersjo so etwas wie eine sakrale Aura auf seiner Trompete. Auf der aktuellen Platte wirken die von ihm bevorzugten choralartigen Melodien tendenziell zu süßlich manchmal. Das Ambiente im Schloss Horst taugt aber, um daraus ein spirituelle wirkendes Gesamterlebnis zu zaubern. Vor allem, weil neben Gjerso drei weitere elektronische Zeremonienmeister auf Synthesizern und präparierter E-Gitarre alles geben, um in Echtzeit mit Klangflächen, Modulationen und Sägezahnschwingungen sowie Oszillatoren, Ringmodulatoren und Filtern (heute wird so etwas zum Großteil digital generiert) klangmalerisch zu improvisieren. So viel Lust, sich hier wild und frei auszutoben, hatten wohl zuletzt die Psychedelic- und Krautrock-Bands aus den 1970er Jahren. Damals brauchte es aber den Gerätepark von der Größe eines halben Nasa-Rechenzentrum für solche Abenteuer...
Auf Festivals, die sich viele Exkurse und Experimente gönnen, freut man sich dann auch mal wieder auf echten, puren Jazz, der allen Reinheitsgeboten gerecht wird. Genau dies leistete das Daniel Garcia Trio aus Spanien in Vollendung. Grundlage für die drei sind in erster Linie die Tonskalen und punktierten Rhythmen des Flamenco – die drei lassen auf dieser Basis freigeistig und fantasievoll, elektrisierend swingend und in hellwacher gleichberechtigter Kommunikation den Himmel auf Erden entstehen. Hinter Daniel Garcias Eloquenz steht eine federleichte, unfassbar präzise Anschlagskultur, die jeden noch so feinen Gedanken in Echtzeit Musik werden lässt. Ob denen dreien nicht auch manchmal schwindelig wird auf solch einem Hochplateau in Sachen musikalischer Reife?
Zum Mitsingen viel zu gut
Ein anderes Klaviertrio verteidigte in Marls Scharoun-Aula mit viel Herzblut seinen Status als langjährige Publikumslieblinge bei den Konzerten der FineArtJazz-Reihe: Allein, wenn der Kubaner Ramón Valle mit seiner sanften Reibeisenstimme das Publikum anspricht, könnte man dahin schmelzen - und wenn er dann erst über die Tasten herrscht! Mit seinen beiden Mitstreitern ist er hauptsächlich im kubanischen Setting unterwegs, flott-virtuos, unerschöpflich und mitreißend. Die große Sternstunde bei diesem Konzert war aber aus der Not geboren, als die Technik kurzfristig mal nicht das tat, was sie soll. Also war etwas alleine Spielen angesagt – und Ramón Valle ließ Leonard Cohens "Halleluja" erklingen. Groß ist die Versuchung, hier wieder die übliche Mitsing-Nummer einzuleiten. Ramón Valle hatte aber viel Höheres im Sinn: Cohens Melodie wirkte wie eine warme Thermik, um in erhabene Höhenflüge aufzusteigen. In Gestalt einer endlosen Traumsequenz, oft fast schon wie eine Fantasie im klassisch-romantischen oder impressionistischen Sinne, die aber gerade erst, aus der Aura des Moments und dieses Ortes entstand. Valles großes Kapital ist die "russische Klavierschule", die er bei seinem Studium in Havanna verinnerlicht hat - weswegen auch immer viel Debussy, Rachmaninoff oder Ravel in seiner spielerischen Diktion mitschwingt. Auch die Marler Scharoun-Aula gehört zu den neuen Erkundungen beim New Colours Festival. Für das Marler Publikum wirkt es anscheinend noch zu "unwirklich", dass hier mal etwas anderes als Konzerte der Musikschule stattfinden bzw. dieser Umstand ist noch nicht in den Köpfen vieler angekommen. Vielleicht lag es aber auch einfach nur an diversen Konkurrenzveranstaltungen an diesem Nachmittag.
Am Ende ein Freudenfest
Zum Abschlusskonzert mit der Band De-Phazz strömten circa 400 Menschen in die Heilig-Kreuz-Kirche und wurden restlos beglückt. Ja, dieses Konzert zum Finale des Festivals wurde ein echtes Freudenfest – und schon wieder in einem spektakulären Setting, das seinesgleichen sucht! De-Phazz zelebrierte mit seinem Publikum ein echtes Freudenfest zum 25-jährigen Band-Bestehen und ebenso zum Finale dieses Festivals. In Bestform fackelte die Band ein ansteckendes Soul- and Funk Entertainment-Feuerwerk ab, welches vermutlich noch viel mehr Tanzbeine Schwung bringen würde, wenn es weniger Sitzreihen gäbe. Und auch hier ist das Setting wieder spektakulär: Wie in einem Fritz-Lang-Film mutet das elliptische Halbrund in diesem hohen Kirchenbau aus dem Jahr 1929 an - und die Akustik ist dank topaktueller Sound-Technik ebenfalls sensationell.
Kulturelle Vielfalt ist da - und es genug Locations!
Es gibt so viele besondere Örtlichkeiten in unserer Region, die nur darauf warten, mit der ganzen realexistierenden, blühenden kulturellen Vielfalt bespielt zu werden. New Colours hat in diesem zweiten Jahr seine Fühler konsequent weiter ausgestreckt, letztlich auch, um wiederum mehr davon sichtbar zu machen. Was auch nachdenklich stimmt: So ähnlich seltsam wie die Tatsache, dass in der von Hans Scharoun in architektonischer Vollendung geschaffenen Aula jahrzehntelang fast ausschließlich Musikschul-Konzerte stattfinden (langsam ändert hier was, zum Glück....) so ist es auch nicht wirklich nachvollziehbar, warum in Gelsenkirchens Heilig Kreuz Kirche fast ausschließlich Comedy-Veranstaltungen und irgendwelche „Best-oft Nachspielbands“ auf die Bühne kommen. Dieses Architekturdenkmal taugt für viel mehr und braucht mehr! Man braucht hier nur auf die Bochumer Christuskirche zu schauen – in der seit Jahren viel konzeptioneller Mut wirkt.