Nachhaltige Eindrücke
moers festival 2013
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Kurt Rade, Bernd Zimmermann
Das Publikum kann den Organisatoren des Moers Festvial immer wieder dankbar sein für Musiker und Musikergruppen, die neue Trends ausmachen und bei den Zuhörern einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. So auch am 3. Tag des diesjährigen Festivals geschehen.
Der Sänger – besser: Performer - und sechste Moerser „Improviser in residence“ Michael Schiefel und sein Projekt ‚Platypus Trio‘ mit Paolo Damiani am Cello und Miklos Lukacs dürfte dazu zählen. Seine Bühnenshow, seine stimmlichen und auch darstellerischen Darbietungen decken eine ganze Bandbreite vom Jazz- und Scat-Gesang ab. Beeindruckend auch seine gesamte Bühnenpräsenz. Leider konnte der Rezensent für diese Ausnahmeerscheinung nur den letzten Teil erleben. Ein sträfliches Versäumnis.
Das französische Quartett ‚Caravaggio‘ ist für die eingangs formulierte Feststellung ein prototypisches Beispiel. Kontrabassist Bruno Chevillon und der Drummer Eric Echampard – beide eher vom Jazz und der Improvisierten Musik kommend – haben sich mit Benjamin de la Fuente (Violine) und Samuel Sighicelli (Keys) zusammengeschlossen, um etwas Neues zu kreieren, um, wie das Programmheft ausweist, „Klischees zu vermeiden“. Diesen Anspruch mit elektronischer Musik zu verbinden, weckt zunächst einen gewissen skeptischen Reflex, erzeugt doch die Konzentration auf das Klangliche bei elektronischer Musik häufig ein gewisses Déjà-Entendu-Erleben. Was ‚Caravaggio‘ jedoch gelingt, ist in der Tat ein ganz spannendes kollektives Arbeiten an einem Klang-Gewebe, das gerade in der Live-Präsentation der vier Musiker eine experimentelle Spannung erzeugt, die wahrhaft „Klischees vermeidet“. Ein Basslauf von Bruno Chevillon – zunächst auf seinem Kontrabass, in der Folge ausschließlich auf seinen E-Bässen – verfremdet durch allerlei Sampler- und Synthi-Sounds – wird von der Violine aufgegriffen, die ebenfalls synthetische Klänge erzeugt. Die Keys von Sighicelli legen darunter eine Fläche, die Drums setzen ein. Es entsteht teils ein elegisch-tragender Sphärenklang, teils ein rockig anmutender Pulsschlag, teils an Computerspiele erinnernde Sounds. Erzeugt wird so eine im positiven Sinne „Synthese“, ein (Auf-)Sammeln von Sound-Ideen, ein Zusammenbringen, eine Montage, etwas Neu-Erfundenes. Dies ist nicht zu verwechseln mit einem etwaigen Eklektizismus oder gar einem beliebigen Stil-Zapping. Klang- und Rhythmus-Elemente aus Neuer Musik, Psychodelic, Rock, Elektronischer Musik, Avantgarde-Rock… werden in den einzelnen Stücken mal mehr, mal weniger artikuliert, aber immer zu neuen Klanggebilden zusammengebracht. Am ehesten kann man beim Bass und den Drums noch stellenweise den Jazz-Hintergrund der beiden Musiker heraushören. Bei aller intendierten Vermeidung von Klischees finden sich Anspielungen, die erinnern an King Crimson, Kraftwerk oder Soft Machine. Eine Zuordnung zu einem Genre oder einem Musik-Stil, die die Hörerfahrung und den flüchtigen Augenblick der Performance reproduzieren und damit das Musik-Erleben wiedergeben will, ist bei ‚Caravaggio‘ eher müßig und zeigt, dass verbale Beschreibungen von Musik immer auf „Vorbilder“ angewiesen sind. Die kollektive Improvisation der Gruppe, das Basteln am Sound, das übrigens mit zur Bühnendarstellung der Vier gehört, schicken die Zuhörer auf eine assoziative Reise. Der Rezensent fühlt sich von den ätherischen Klängen aus dem dunklen Bühnenhintergrund versetzt in eine kleine Filmmusik der Nacht – ohne einen äußeren Film, aber mit spannungsgeladener assoziativer Kraft. Die minimalistischen Riffs, die kleinen, eher angedeuteten Bassläufe, die Synthi-Klänge schaffen insgesamt eine sehr dichte dramatische und hochpoetische (Atmo- und Klang-)Sphäre. Man möchte weiter im Klangkosmos des Quartetts bleiben, selten hat man Gelegenheit zu einer so intensiven Klangvielfalt und musikalischen Technik im Kontext von elektronisch orientierter Musik.
Ein Beispiel für eine völlige Kontrast-Programmierung bedeutet der Auftritt der nächsten Gruppe ‚Nohome‘ mit Caspar Brötzmann an der Gitarre und den Schweizern Marino Pliakas am Bass und Michael Wertmüller an den Drums. Ihr Auftritt ist im wahrsten – und leider auch im schlechtesten – Sinne ohrenbetäubend und damit das Gegenteil von subtiler Klangkomposition wie bei ‚Caravaggio‘. Es ist schlicht Brachiallärm auf höchstem Pegel, die Musikrezeption degeneriert zur bloßen Mutprobe. Dass Caspar Brötzmann auch sonst wenig Empathie mit dem Publikum aufbringt, zeigt sich, wenn er am Schluss des Auftritts es noch nicht einmal für nötig empfindet, den Verstärker vor Ziehen seines Gitarrenkabels herunterzudrehen. Vielleicht gehört ja auch diese Form des akustischen Schocks zum Programm von ‚Nohome‘. Keine Heimat findet der Rezensent bei dieser Form von bloßer Lärmkulisse, zum Musikalischen ist sonst nichts zu vermelden. Die Zugabe, zu der sich die Gruppe herablässt und die von dem Saal positiv aufgenommen wird, verbringe ich – immer noch mit Ohrschutz – vor dem Zelt.
Und dann ist noch einmal ein Duo ganz groß: Evelyn Glennie und Fred Frith finden auf der Moerser Bühne wieder zusammen. Damit kommt in Moers die zweite Traumbegegnung nach Endresen-Westerhuis zusammen. Verglichen mit ihrem Auftritt an diesem Ort vor acht Jahren ist ihr aktuelles Set noch berührender, evoziert noch mehr traumhafte Andacht im Publikum,
lotet noch sensibler ein Geflecht aus lyrischer Tiefe und aufbrausender Wucht, aus zarter Poesie und abstrakter Geräuschwelt aus. Einmal mehr ein würdiges Finale an diesem unvergleichlichen Aufführungsort, der nun Geschichte ist!