Musikhauptstadt Tallinn
European Jazz Conference 2021
TEXT: Christoph Giese | FOTO: Rene Jakobson
Gibt es eine europäische Musikhauptstadt? Von Ende August und hinein bis in den Oktober geht der Titel auf jeden Fall ins kleine Estland, das sich in diesem Zeitraum musikalisch ganz groß präsentiert.
Zunächst einmal mit dem größten Jazzfestival des Baltikums, dem „Jazzkaar“ (wir berichteten: https://www.nrwjazz.net/jazzreports/2021/Jazzklar_2021_in_Tallinn/). Dann fand zum zweiten Mal die jährliche „European Jazz Conference“ des „Europe Jazz Network“ in Estlands Hauptstadt statt – und zum guten Schluss gibt es am kommenden Wochenende auch noch die ebenfalls jährliche „Tallinn Music Week“.
Weit über 200 Delegierte aus vielen Sparten des Jazz reisten trotz Corona-Pandemie persönlich nach Tallinn zur Jahreskonferenz. Aber die Organisatoren, darunter auch das Festival „Jazzkaar“ und das estnische Kulturministerium, hatten alles getan, um ein möglichst sicheres Wochenende zu garantieren. Natürlich fühlt es sich für den aus Deutschland angereisten Berichterstatter ein wenig seltsam an, weil seit langer Zeit nun einfach total ungewohnt, dass man zu später Stunde in einem engen Club dicht beieinander stehen kann und darf, ohne Maskenzwang, und tanzen kann zur mitreißenden Liveshow der estnischen Funkband „Lexsoul Dancemachine“. Oder zuvor zumindest mitwippen zu den erstklassigen Soul- und R&B-Klängen der estnischen Sängerin Rita Ray.
Wie baut man sich ein Publikum wieder auf nach der Corona-Pandemie? Welche neuen Formate und Wege des Musikhörens gibt es? Und was ist zu beachten beim Post-Covid-Programmieren von Konzerten? Über diese und weitere Themen wurde bei der Konferenz gesprochen und diskutiert. Und bei gemeinsamen Mittag- und Abendessen sicher auch diese Themen vertieft und andere angesprochen.
Und natürlich gab es auch Musik zu hören. In den Showcases stellte sich vor allem die heimische Jazzszene vor. Der in Deutschland aufgewachsene, estnische Pianist Kristjan Randalu etwa zeigte in einem Solokonzert und als Mitglied des Trios „Peedu Kaas Momentum“ warum er zu den spannendsten Tastendrückern Europas zu zählen ist. Spannend und vielseitig ist auch der estnische Gitarrist Jaak Sooäär. Im Trio mit dem armenisch-estnischen Bassisten Ara Yaralyan und dem finnischen Drummer Markku Ounaskari finden Jazzrockiges, armenische und nordische Folklore und europäische Klassik wunderbar zusammen. Und im „Tormis Quartet“ interpretiert Sooäär zusammen mit den Sängerinnen Kadri Voorand und Liisi Koikson und Gitarrenkollege Paul Daniel die Musik des großen, 2017 verstorbenen estnischen Chormusik-Komponisten Veljo Tormis wagemutig, frisch und frech in einem Jazzkontext – fein untermalt durch Visuals, die wiederum mit informativen Fakten zu Estland mit Texteinblendungen interessant angereichert wurden.
Einige estnische Künstler haben sich längst auch außerhalb ihres Landes einen klangvollen Namen gemacht. Wie etwa die Sängerin und Musikerin Kadri Voorand, die gleich mehrere Male im Rahmen der Konferenz auftrat. Auch mit ihrem Duo, das sie mit ihrem Landsmann, dem Bassisten Mikhel Mälgand, betreibt. So mancher vor Ort wird sich dieses Zweiergespann gemerkt haben. Aber nicht nur gute Musik bleibt hängen von der diesjährigen „European Jazz Conference“, sondern auch die vorbildliche Organisation der gesamten Veranstaltung. In Corona-Zeiten so ein Event zu planen war sicher alles andere als einfach im Vorfeld. Es ist den Machern in Estland aber eindrucksvoll gelungen. Dass es zudem Tage mit Wohlfühlfaktor wurden – auch die Kirsche auf der Torte fehlte in Tallinn nicht.
Die nächste „European Jazz Conference“ des EJN findet im kommenden September übrigens in Bulgariens Hauptstadt Sofia statt. EJN-Mitglied Mila Georgieva von der mitorganisierenden „A to Z Foundation“ stellte in Tallinn ihre Heimatstadt schon einmal vor und machte direkt Lust auf die Veranstaltung im Jahre 2022.