Musikalische Performance
Verwundet - zu Texten von Dieter Leisegang
TEXT: Uwe Bräutigam | FOTO: Uwe Bräutigam
Im Bonner Theater im Ballsaal herrscht eine dichte gespannte Stimmung, durchzogen von einer existenziellen Traurigkeit. Das Ensemble Tra I Tempi führt eine Performance auf zu Texten von Dieter Leisegang (1942-1973). Leisegang ist Philosoph, Dichter und Übersetzer, hat bei Adorno und Schaaf in Frankfurt studiert und mit Auszeichnung promoviert. Er erhielt einen Lehrauftrag für Geschichte der Philosophie, insbesondere Kunsttheorie, an der Frankfurter Uni. Er hat neben theoretischen Abhandlungen auf höchstem Reflexionsniveau auch Gedichte geschrieben. 1973 mit 30 Jahren setzte Leisegang seinem Leben ein Ende. Michael Veltman, Komponist und Pianist aus Bonn, hat in seiner Komposition einige dieser Gedichte in gesprochenes Wort und Musik umgesetzt. Die Komposition besteht aus fünf Abschnitten und enthält auskomponierte und improvisierte Teile.
Veltman selbst ist als Sprecher und Pianist auch einer der Ausführenden. Die anderen beiden sind Nicole Ferrein, Stimme (Sopran) und Peter Stein, Violine und Viola.
Der Bühnenraum ist völlig dunkel, Licht fällt nur auf die Aufführenden. Michael Veltman spricht wiederholt den Satz: „Es liege folgender Fall vor“. Peter Stein spielt sehr behutsam Geige dazu. Später wechselt er zur Bratsche. Michael Veltman spielt dann wenige eindrückliche Töne am Klavier und Nicole Ferrein singt/spricht Texte von Leisegang. Später werden Feldmann und Ferrein auch eine zeitlang im Duo sprechen. Nicole Ferrein spricht/ singt mit leiser zurückgehaltener Stimme voller Klarheit und Reinheit. Die leisen Klänge der Geige oder Bratsche und die wenigen Klangtupfer vom Klavier, zusammen mit der hellen klaren Stimme erschaffen eine sehr besondere Stimmung. „Denn eine ruhige Spannung, die Stille, in der sich das Wundsein zusammenzieht, lag auf der Ruine…“ (Leisegang). Die Aufführung in Bonn erzeugte eben diese Stimmung. Als die Aufführung nach einer Stunde endet, traut man der Uhr nicht. Die Musik hat das Publikum in eine Form von Zeitlosigkeit geführt, in der Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit anwesend sind.
Dieter Leisegangs Texte kreisen um das Individuum und um seine Möglichkeit oder Unmöglichkeit in Beziehung zu anderen zu treten. Sein letzter Text, ein Prosagedicht, das eigentlich als Roman geplant war, ist von von Gottlob Freges (1848-1925) Text „Der Gedanke“ (1918) inspiriert worden. In diesem Text setzt sich der Mathematiker, Logiker und Sprachphilosoph Frege mit der Frage auseinander, ob zwei Gedanken bzw. zwei Aussagen, die gleich sind, wirklich dasselbe meinen. Der Ausgangsatz Freges lautet: Es liege folgender Fall vor. Dr. Gustav Lauben sagt: „Ich bin verwundet worden.“ Dieser Satz gibt der Komposition und der Performance ihren Titel verwundet. Er bezieht sich einerseits auf den Text, andererseits auch auf Dieter Leisegang, der so tief verwundet war, dass er seinem Leben ein Ende setzte.
All dies hört sich sehr theoretisch an. Der Abend in Bonn, die Aufführung verwundet ist aber das Gegenteil von kalter Theorie oder hoher Abstraktion. Die wenigen leisen Töne, die Wörter als Klang und Rhythmus eingesetzt, erreichen die Sinne des Publikums. Die Texte sind nur bruchstückhaft verständlich, trotzdem vermittelt sich etwas von dem, was Dieter Leisegang mit ihnen ausgedrückt hat. Oder was die Zuhörer*innen in ihnen hören. Die Performance ist keine szenische Lesung, sondern hier wird Lyrik in Musik integriert und in Musik umgesetzt. Eine Weiterführung des früh abgebrochenen Werkes von Leisegang mit musikalischen Mitteln. Es bleibt zu hoffen, dass verwundet noch weitere Aufführungen erleben möge.