Bild für Beitrag: Musik zur Reichspogromnacht | BOJAN VULETIC Flügel, schwebend
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Musik zur Reichspogromnacht

BOJAN VULETIC Flügel, schwebend

Düsseldorf, 03.06.2021
TEXT: Uwe Bräutigam | FOTO: Susanne Diesner

Noch vor einer Woche hatte Bojan Vuletic nicht damit gerechnet, dass seine Kompostion Flügel, schwebend vor Publikum aufgeführt werden kann. Eigentlich sollte das Werk am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht aufgeführt werde. Es ist eine Auftragskomposition für die Tonhalle Düsseldorf.

Nun ist es ganz kurzfristig in den Konzertkalender aufgenommen worden. Das ging nur, weil am 2.6. ein Konzert mit einer anderen Komposition von ihm stattfinden sollte, das aber auf den Oktober verschoben wurde.

Also jetzt ist soweit, nach fast acht Monaten warten und mehrmals verschieben, sitzen in der Tonhalle Zuhörer*innen mit Masken und viel Abstand und können das Ensemble mit Christoph Schneider an der Klarinette, Egor Grechishnikov an der Geige, Nikolaus Trieb am Cello und Alina Bercu am Flügel auf der Bühne live erleben.

Auch wenn das Werk für einen bestimmten Gedenktag geschrieben wurde, ist es nicht fehl am Platze. Auch im Juni macht es Sinn sich an den 9. November 1938 zu erinnern. Der Tag an dem in Deutschland tausende Jüdinnen und Juden ihre Existenzgrundlage verloren, Synagogen niedergebrannt wurden und hunderte jüdische Bürger von den Schlägerbanden der SA und der SS ermordet wurden.

Bojan Vuletic hat in der Vorbereitung seiner Komposition viele Zeitzeugenberichte gelesen und Tondokumente aus dem Archiv der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf gehört. Eine Aufnahme ging ihm besonders nahe. Die Zeitzeugin Irene Delmont beschreibt, wie drei Nazischergen einen Flügel aus einem Fenster im dritten Stock heraus schoben und ein vierter Mann stand dort rief immer wieder „Nein, nein, nein.“ Dann fiel der Flügel aus dem Fenster und die Zeitzeugin hatte das Gefühl, dass es eine Stunde dauerte bis der Flügel unten auf der Straße aufschlug.

Bei Bojan Vuletic entstand so die Grundidee seiner Komposition. Er wollte nicht die Zerstörung und das Grauen in Musik umsetzen, sondern den Moment vor der Zerstörung, die Musik, die auf dem Flügel gespielt wurde, die in ihm steckte, in die heutige Zeit transportieren. Inspiriert wurde er von Olivier Messiaen, der im Kriegsgefangenenlager in Görlitz seine Komposition: Quator pour la fin du temps schrieb. Die Ensemblebesetzung ergab sich aus den im Lager verfügbaren Musikern. Diese Quartettbesetzung greift Bojan Vuletic für seine Komposition auf. „Flügel, schwebend ist eine Widmumg und eine musikalische Reaktion auf diesen Moment in der deutschen Vergangenheit, als Musikinstrumente zerstört wurden, um mit dem Instrument auch den Menschen und seine Würde zu zerschlagen“ (Bojan Vuletic).

Das Publikum in der Tonhalle wurde musikalisch in das Jahr 1938, vor der Reichspogromnacht, geführt. Es ist eine zeitgenössische Auseinandersetzung mit Mitteln, die aus dieser Zeit stammen. Wir finden z.B. Rückgriffe auf Schönberg und die 2. Wiener Schule.

Es gibt in dieser Komposition viele ergreifende Stellen, da ist ziemlich am Anfang ein langes Geigensolo voll anrührender Momente, da ist ein Crescendo auf dessen Höhepunkt eine Generalpause eingesetzt wird und langsam und zart kommen die einzelne Instrumente aus der Stille heraus wieder zurück, an anderer Stelle erhebt sich aus dunklen hämmernden Klavierakkorden ganz fein die Klarinette, Geige und Cello folgen, dann kommt das Klavier zurück mit seinen dunklen repetitiven Klängen. Das Werk ist sehr lebendig, mit Wechseln von temperamentvollen Tutti zu sehr subtilen leisen Soli oder Duos. Das Leben und die Fülle der Musik dieser Zeit werden abgebildet. All das was in den Instrumenten steckte bevor sie zerstört wurden wird wieder erlebbar gemacht. Aber es tauchen auch vereinzelt dunkle Klavierakkorde auf, die an drohende Marschritte erinnern können.

Bojan Vuletic hat mit seiner Komposition dem Dröhnen der Nazis etwas entgegengesetzt.

Das hochkarätig besetzte Ensemble mit Christoph Schneider, der Solo Klarinette bei der Deutschen Oper am Rhein Duisburg spielt, dem Geiger Egor Grechishnikow, der 2. Konzertmeister der Düsseldorfer Sinfoniker ist, Nikolaus Trieb, Solo Cellist der Bayreuther Festspiele und der Pianistin Alina Bercu, die auf vielen großen Bühnen der Welt, von der Carnegie Hall New York bis zur Tonhalle Zürich, gespielt hat, hat die Komposition herausragend umgesetzt. Bojan Vuletic sagt nach dem Konzert, dass es kein größeres Geschenk für einen Komponisten gäbe, als die Umsetzung seiner Komposition mit all seinen Gedanken und Ideen in Musik. Dies ist dem Ensemble meisterhaft gelungen. Das Publikum spendet nicht enden wollenden Beifall.

Bojan Vuletic ist ein Komponist, Gitarrist und Klangkünstler, der in Düsseldorf lebt. Er ist Co-leiter des Sommerfestival asphalt in Düsseldorf. Er arbeitet interdisziplinär mit Künstlern aus Musik, Kunst, Tanz, Theater, Film und Literatur. Er schrieb Kompositionen für zeitgenössischen Tanz und Theater. Vuletic hat mit Kammermusik Ensemble, Chören, Orchester, Big Bands und Jazzbands gearbeitet.

Aus dem Bereich Jazz und Improvisationsmusik hat er mit Markus Stockhausen , Bojan Z, Reiner Witzel , Joscha Oetz , Nate Wooley, Ingrid Laubrock und vielen weiteren Musiker*innen zusammengearbeitet.

NRW Jazz berichtet seit vielen Jahren über seine Arbeit, hier einige Links zu seinen früheren Werken:

https://www.nrwjazz.net/reviews/2015/Nate_Wooley_und_Mivos_Quartett_Palais_Wittgenstein/

https://www.nrwjazz.net/reviews/2015/BojanVuleticAlteFarbenfabrik/

https://www.nrwjazz.net/jazzreports/2016/bojanvuleticguernica/

https://www.nrwjazz.net/jazzreports/2019/Asphalt_Festival_Markus_Stockhausen_und_Bojan_Z/

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