Moderne Antworten auf Bach
Cellist Jean-Guihen Queyras bei der Ruhrtriennale
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Michael Kneffel für Ruhrtriennale
An Johann Sebastian Bachs musikalischem Vermächtnis kommt niemand vorbei. Auch viele Jazzmusiker haben die Kompositionskunst des Barockgenies tief verinnerlicht – sie lebt sozusagen als Spurenelement in der eigenen improvisatorischen Sprache. Viele Jazzer spielen daher diese zeitlose Musik regelmäßig. Da machen auch Bachs Sechs Solosuiten für Violoncello (BWV 1007-1012) keine Ausnahme, dessen Transkriptionen für Kontrabass für viele Jazz-Bassisten so etwas wie eine musikalische „Nahrung“ für den Alltag darstellen.
Der frankokanadische Cellist Jean-Guihen Queyras lotete bei seinem begeistert gefeierten Soloauftritt im Rahmen der Ruhrtriennale weitere, nicht minder relevante Beziehungen zwischen dem Werk von Bach und der musikalischen Gegenwart aus. Queyras beauftragte gleich ein halbes Dutzend zeitgenössischer Komponisten, damit diese die Cellosuiten in ihrer eigenen Klangsprache „beantworten“.
Karg sind die Mauern in der Maschinenhalle der Zeche Carl. Diese Kargheit passt zum eigenwillig puristischen Charakter dieser Musik – die so streng auf sich selbst reduziert ist und zurückgeworfen anmutet bei gleichzeitiger ästhetischer Offenheit. Skizzenhaft muten die neuen Kompositionen aus der Feder von Jonathan Harvey, Ivan Fedele, Gilbert Amy oder der Japanerin Misato Mochizuki an. Die Stücke, die teilweise unter dem zutreffenden Arbeitstitel „pre-echo“ zusammengefasst sind, werden zu diesem Anlass jeder der sechs Suiten vorangestellt. Sie greifen beispielsweise den Bewegungsgestus von Bachs Präludien auf, reflektierenmotivische Bezüge oder malen den Stimmungsgehalt der jeweiligen Suiten in ganz modernen Klangfarben und radikalen Spieltechniken aus - reich angefüllt mit Flagoletts, Tremolo-Effekten und allerlei geräuschhaften und sonstwie akrobatischen Effekten aus der neutönerischen Trick-Kiste. Die Berührung durch Johann Sebastian Bach scheint sich dabei wie in einem Brennglas zu brechen und widerzuspiegeln.
Dieser Interpret allein auf der Bühne gerät zusammen mit seinem Publikum auf Anhieb in einen Zustand tiefer Versenkung.Extrem sensibel sind die Momente, wenn Queyras jedes Mal nahtlos in die Präludium der jeweiligen Suiten „hinüberwechselt“. Queyras leistet sich auf jeden Fall eine sehr „ehrliche“ Interpretation. Sie ist von frappierender atmosphärischer Differenziertheit und umfasst auch von ihrem Temperament her eine riesige Farbpalette! Alles strahlt aus dem Inneren heraus und braucht kein extrovertiertes Blendwerk. Klug dosierte rhytmische Akzente lassen eine sprechende Rhetorik aufkommen - und die ausgeprägten Crescendi und Descrescendi geben dem Fluss der Musik etwas Atmendes. So berührt die tiefe Melancholie, wie sie die fünfte und vor allem auch die zweite Suite verströmen – und es lebt so viel lichtdurchflutete Heiterkeit vor allem in der ersten oder der wesentlich hintergründigeren und extrem schwierig zu spielenden sechsten Suite. Immer noch weiter verstärken die meditativen Sarabande-Sätze die Versunkenheit des Publikums, oder es eilen Queyras Finger in den Courante- (=laufenden) Sätzen in flinker Hatz tonmalerisch voran, dass es den Atem stocken lässt. Und es sorgt ein erfrischender tänzerischer Schwung in den „Gigue“-Sätzen dafür, dass es im besten Sinne von gutem Jazz – swingt!
Nach drei Stunden höchster Konzentration bei Interpret und Publikum entlädt sich die Begeisterung in stehenden, jubelnden Ovationen. Statt einer Zugabe, die nach dieser Tour de Force undenkbar wäre, bedankt sich Queyras in einer kleinen, ergriffen wirkenden Ansprache für so viel engagierte Teilnahme. Eine solche Aufführung ist immer ein herausforderndes Projekt – und passt damit bestens in ein Festival hinein, das sich unter Heiner Goebbels Intendanz erfreulich konsequent auf die künstlerische Avantgarde zurückbesonnen hat.