Mit spezifischer Aura
Die "Enttäuschung" in Herne
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Warum bergen alte Jazzplatten Qualitäten, die man bei vielen zeitgemäßen Combos zuweilen vermisst? An der heute mehr denn je vorhandenen spielerischen Perfektion kann es wohl kaum liegen. Daran, dass so vieles mit dem Computer glattpoliert wird?
Vielleicht. Um die Aura geht es nämlich und die Suche nach deren Verbleib in heutigen Tagen. Die kommt wieder zum Vorschein, wenn man alles, was täuscht wegnimmt, also eine „Ent-Täuschung“ vollzieht. Raus aus der Verblendung und zurück zur Autentizität - sowas ist beim gleichnamigen Berliner Quartett mit dem „enttäuschenden“ Namen Programm. Auf der Internetseite der Flottmann-Hallen in Herne ist der Auftritt der Berliner immerhin unter der Sonderrubrik „Ambitionierte Konzerte“ gelistet.
Und ambitioniert sein, heißt bei der „Enttäuschung“, auf alles Blendende zu verzichten. Da gibt es an diesem Abend in der Flottmann-Halle zum Beispiel keine Kabel, Mikros und Verstärker. Statt umständliche Monitore aufzubauen, stehen bzw. sitzen Rudi Mahall (Klarinetten), Axel Dörner (Trompete), Jan Roder (Bass) und Uli Jennesen (Drums) recht eng beisammen. Kommunikation heißt aufeinander hören. Und dann diese klingende Wärme, die für sich genommen schon die Herzen öffnet: So seidig, physisch-echt und musikalisch-singend kann in diesem technikfreien Natursound eine Bassklarinette wirken. So strahlend lupenrein, aber auch fühlbar geschmeidig kommt die Trompete daher – während die Rhythmusgruppe zwar etwas leiser als „normal“, dafür aber umso schwereloser swingt. Das allein ist schon Aura genug.
Rudi Mahall ist ein Kommunikator, der sich mit dem Publikum in schräge Konversationen versteigt. Warum mit bierernstem „professionellen“ Gehabe täuschen - wenn die gespielte Musik ohnehin zum Besten, Stilsichersten, Frischesten gehört, was der Jazz aus deutschen Landen hervorbringt! Denn die Substanz der meisten – weitgehend schriftlich auskomponierten!- Stücke dieser Combo geht unweigerlich in die Köpfe und brennt sich dort fest. Die Kompositionen wirken nicht wie solche, eher sind es spontane Skizzen. Eine thematische Idee, ein kantiges melodisches Motiv – kurze und knackige Improvisationen und Interventionen. Thesen und Gegenthesen, Reibungen, spontane Impulse. Immer wieder ironische Berechnungen. Und Kollektivimprovisationen zwischen den beiden Bläsern, die zu einer merkwürdigen Symbiose verschmelzen. Die sich auch mal einen falschen Ton leisten - oder wo einfach nochmal neu angefangen wird, wenn es den Musikern spontan einfällt. Und es blitzen in diesem Hexenkessel voll sprühender kreativer Unruhe so viele leuchtende Partikel aus den weiten unendlichen Weiten der Jazzhistorie auf. Gerne anarchisch und dekonstruktivistisch, denn man will sich dem Erhabenen nicht unterordnen. Eben nicht mit Zitiertem täuschen, sondern mit reichem Vokabular auf den Punkt kommen. Unberechenbar und schräg, verspielt. Und immer wieder – vor allem was die Melodieführung der sprudelnden Klarinettenläufe, der schneidigen Trompetenlicks anbelangt – so dezidiert-deutlich auf Thelonious Monk bezogen. Der hier frischer denn je durchklingt, obwohl hier noch nichtmals ein Klavier mitmacht. Die Band hat sich ja auch in früheren Projekten schon gründlich am Bebop-Revoluzzer abgearbeitet.
Zwischenbemerkungen aus dem Publikum sind erwünscht. Rudi Mahall hat sehr viel Spaß an diesem Abend, lacht sich immer zwischen seinen Einsätzen auf hoher und tiefer Klarinette selbst kaputt, worüber auch immer. Bezeichnet dann mal eben die unberechenbaren Interaktionen als „Kuscheljazz oder auch Happy-Jazz“. Der Titel der neuen, beim Intakt-Label erschienenen CD „Vier halbe“ soll sich laut Rudi Mahall auf „Alkoholismus bei unter Vierjährigen beziehen.“ Aha?
Nein, eine Enttäuschung ist all dies nicht. Nach so viel ausgelebter Jazz-Aura wird klar, wie viel Selbstbewusstsein der gewählte Bandnamen transportiert