Kulturhauptstadt 2011
Tallinn - Resümee
TEXT: Christoph Giese | FOTO: Christoph Giese
60 Minuten können ziemlich lang werden. Vor allem, wenn bei Minusgraden noch ein kühler Wind zusätzlich ins Gesicht bläst. Wer beim großen Finaltag in Estlands Kulturhauptstadt 2011 am Hafen live bei der Veranstaltung „60 Seconds of Solitude in Year Zero“ dabei sein wollte, dem nützte bei den lausigen Temperaturen auch warme Kleidung wenig.
Der estnische Schauspieler und Autor Taavi Eelmaa hat ein Manifest aus 60 Textzeilen für jeweils 60 Sekunden Film verfasst. Internationale Filmemacher, darunter auch der Deutsche Tom Tykwer, konnten für die 60-sekündigen Stummfilme gewonnen werden.
Die einzig existierende 35-mm Kopie des dann einstündigen Gesamtfilms, konzipiert als Gesellschaftskritik am heutigen Kino, konnte die Erwartungen aber nicht erfüllen. Nur wenige der experimentellen 60-Sekünder fesselten. So wurde die geplante und durchgeführte Verbrennung der Filmrolle direkt nach dem Ende der Vorführung kein trauriger Akt.
Eine wenig überzeugende Veranstaltung kann das hervorragende Fazit des abgelaufenen Kulturhauptstadt-Jahres in Tallinn ohnehin nicht negativ einfärben. Die vergangenen zwölf Monate waren ein voller Erfolg. „Wir konnten viele Zweifler überzeugen“, betont Maris Hellrand vom Kulturhauptstadt-Organisationsteam nicht ohne Stolz. Für Tallinn war es ein Rekordjahr. Zwei Millionen Gäste, 23 Prozent mehr Übernachtungen in der Stadt, 30 Prozent mehr Besucher aus Deutschland. Und 28 Prozent der befragten Gäste gaben an, wegen der Kulturhauptstadt nach Tallinn gekommen zu sein.
Die Kulturschaffenden im Land hätten zudem einiges lernen können, was die eigenen Vermarktungsmöglichkeiten betrifft. Und es sei eine Kraft zu spüren gewesen, zusammenzukommen, betont Maris Hellrand, die nicht vergisst zu erwähnen, dass mit der vor drei Jahren schon im Hinblick auf die Kulturhauptstadt ins Leben gerufenen „Tallinn Music Week“ eine erfolgreiche Veranstaltung für die estnische Musikszene und die ihrer Nachbarn geschaffen wurde, die weiterlaufen wird und ein gutes Beispiel für Nachhaltigkeit eines Kulturhauptstadtjahres sei.
Was auch haften bleibt für sicherlich noch eine ganze Weile sind die insgesamt vier Konzerte unter dem Titel „World of Glass“. Die beiden renommierten norwegischen Musiker Arve Henriksen und Terje Isungset improvisierten in einem kleinen Theater mitten in Tallinns Zentrum an zwei Dezembertagen äußerst einfallsreich auf allerlei ungewöhnlichen Glas-Instrumenten, die speziell für dieses Projekt von Lehrenden und Studenten der estnischen Kunstakademie angefertigt wurden. Ein viermaliges Hörerlebnis der besonderen Art, das mit ungewöhnlichen Klängen und Ideen schlichtweg verzückte.