Künstlerische Ideen treiben Projekte an
Das Moers Festival 2022
TEXT: Stefan Pieper, | FOTO: Stefan Pieper, Kristina Zalasskaya
Obwohl ein gewandeltes Konzept noch die Unfertigkeit eines Neustarts verströmt, fließt ein befreiter Strom beim Moers-Festival weiter. Das spürten alle, die da waren und sich jetzt fragen, wie sie ein ganzes Jahr, bis zum nächsten Mal Pfingsten ist, überbrücken sollen.
Saxofonist Florian Walter und die Akkordeonistin Tizia Zimmermann interagierten mit den Robotern Stickboy und Bones - und das sogar simultan auf zwei Bühnen- 50 Jahre, nachdem das Moers Festival zum ersten Mal zum ästhetischen Aufbruch blies. In den letzten Jahren habe viele neue digitale Vorstöße das künstlerische Schwergewicht beim Moers-Festival durch die Pandemie getragen. Bei der 51. Ausgabe zum 50. Geburtstag erwies sich aber der gewachsene, analoge Wesenskern als überlegene Kraft – eben weil es ums Hinkommen, Teilnehmen, Hören, Sehen und Fühlen geht…
Erfreulich stimmen die spontanen Schilderungen von Menschen, die zum allerersten Mal aufs Moers-Festival kommen und hier das Besondere dieses Ortes spüren: Die israelische Multiinstrumentalistin und Komponistin Maya Dunietz beschrieb, dass sie so viel Spaß und Kreativität wie hier selten anderswo erlebe. Bei mehreren grundverschiedenen Konzert-Auftritten saugte sie viel davon auf, um noch mehr davon zurück zu geben. Ihre spirituelle Komposition „Hai Shirim“ nahm es mit älteren, aber auch neuen Liedern in arabischer Sprache auf, hier in Szene gesetzt von einem fragilen Instrumentalensemble und dem Mädchenchor am Essener Dom. Einen Abend später kostete Maya Dunietz die Möglichkeiten der Orgel in der Stadtkirche mit kreativer Lust aus.
Aufgehoben ist die Hierarchie zwischen den Spielstätten
Tim Isfort und sein Team haben die Festival-Infrastruktur geografisch erweitert. Geschichte ist seitdem die Hierarchie aus Hauptspielstätte und Nebenlocations. Was das Ankommen in Moers am Freitagabend umso einladender macht: Zwischen der stilvollen Musikschule und dem Filder-Benden-Gymnasium dominiert entrücktes Sommer-Feeling. Im „Zentrum für nicht-anthropogene Musik“ musizieren sagenhafte Streichquartettmaschinen ganz ohne menschliches Zutun umso neutönerischer. Auf einer kleinen Open-Air-Bühne geht es laut und wild zu. Das spärlich beleuchtete Fahrrad trägt in tiefer Nacht durch den leeren Schlosspark, der für langjährige Festivalbesucherinnen und -besucher Erinnerungsort an so vieles ist. Nackedeis im Springbrunnen sind längst vergangene Geschichte. Dafür lebt „Moers“ als Zustand im Jahr 2022 auch mal in einer Evangelischen Stadtkirche: Die Hörenden bevölkern den sakralen Raum festivaltypisch und machen sich auch liegend bereit für neue Klangerfahrungen, die idealerweise das Gegenteil vom Erwarteten sind: André O. Möller reicht eine einzelne Tonstufe, um fast eine Stunde lang deren Klang durch Oktavierungen bis hinunter in tiefste Subbass-Räume und durch feinste Veränderung der Registrierung zu einem dramatischen Prozess auszugestalten. Einige junge Festivalbesucher, für die Moers augenscheinlich vor allem Feiern bedeutet, überbieten sich in euphorischen Schilderungen über das gerade Gehörte, reden von „Drones“ und „Distortions“. Auf genau diese Horizonterweiterung ist auf Moers seit 50 Jahren Verlass.
Moerser „Freyheit“ wie 1972
Spielstätten, Artists, künstlerische Ansätze wuchern im 50. Jahr des Moers-Festivals ins Unermessliche - und längst auch in den virtuellen Raum. Freiheit, oder diese „Freyhedt“ von Moers heißt aber in erster Linie, physisch einzutauchen in einen Strom aus Ideen, Liveerlebnissen und Begegnungen mit Menschen.
Die große Überraschung: Eine neue, übrigens fremdkuratierte Bühne, „Annex“ genannt, wurde zum stärksten Magneten auf dem Festival. So ähnlich muss es früher im Schloss-Innenhof zugegangen sein, alsder Freejazz wie ein mächtiges Ventil Ohren und Geister von allem reaktionären Mief frei blies. Die spielwütige Reinkarnation von sowas liefert eine Adhoc-Besetzung um die niederländische Band Spinifex nebst Doppelbefeuerung durch zwei Schlagzeuger. Auch ja: Tim Isfort hatte bei seiner Abschiedsrede im letzten Jahr ja auch versprochen, dass es diesmal wieder wie 1972 sein würde.
Vom hier zum ersten Mal Erlebten anstecken ließ sich auch die japanische Geigerin Sana Nagano anstecken. Jenseits ihres kraftvollen Band-Konzertes in der Festivalhalle freute sie sich auf der Ladefläche des kleinen „Moers-Mobils“ über Frischluft, was wiederum einen filigran-fantasievollen Impro-Dialog mit dem Saxofonisten Jan Klare beflügelte. Beide ließen sich von Sound-Loops aus mehreren Dutzend analoger Tonbandmaschinen zu Großartigem inspirieren.
Starke Gesten gegen die Unterdrückung
Jan Klare führte eine der politischsten Darbietungen dieses Festivals: „Three Fingers in the Dark“ - benannt nach der Freiheits-Geste des burmesischen Volks im Angesicht von Diktatur und Unterdrückung, suggerierte auf musikalischem Weg eine „Zärtlichkeit zwischen Völkern“. In diesem Sinne hat Tim Isfort s Langzeit-Projekt „Myanmar meets Europe“ jenes etwa zehnjährige Zeitfenster der Freiheit zwischen zwei Militärdiktaturen mit viel produktivem Idealismus ausgeschöpft. In der Halle machte eine große Besetzung, zu der auch der burmesische Perkussionist Hein Tint gehörte klar, dass Pentatonik der burmesischen Musik und Jazz eine gemeinsame Sache sind. Wie einfach könnte es in der Welt zugehen, wenn Politik sich mehr von der Musik abguckte! Aber weil dies nicht so ist, mündet der Sound in Dystopie - oder nennen wir es ruhig angesichts der Zeitumstände seit dem Militärputsch im letzten Jahr „Realität“.
Der postmodern-beliebige World-Music-Ausverkauf ist vorbei – in Moers geht es um in die Zukunft eines kulturellen Miteinanders: Angelika Niescier und John-Dennis Renken projizierten ihre Jazz-Visionen auf das malayische Perkussionsensemble „The Hidden Tune“ - und dies antwortete mit geschmeidig-choreografischer Rhythmus-Kunst. Die Draußenbühne vor dem Rodelberg zu bespielen folgt eigenen Gesetzen. Wenn die Sonne wärmt, ist dieses Setting zum Eintauchen in meditative Stimmungen prädestiniert – wofür zum Beispiel der Schwedische Gitarrist Kaspar Agnas einen berückenden Minimal-Music-Soundtrack zauberte. Im Abendbereich braucht der Rodelberg Konzerte mit Abgehfaktor - allein weil hierdurch das Nebeneinander zwischen neu entstandenem Händlermarkt und Konzert-Area zu einem besseren Miteinander werden könnte. Auch so mancher Solokünstler bewies ein gutes Bewusstsein dafür, dass man in so einem Setting sein Publikum anders catchen muss, also vernachlässigte der brasilianische Pianist Amaro Freitas neben seinen rauhen Klanggewittern auf dem Flügel auch die Performance nicht.
Die Nacht ist zum Anzünden da
Noch viel mehr lieferte die US-Britische Band Flock das ideale Material, um die Nacht anzuzünden. Stilistisch entspricht die Band dem krautrockigen Coverdesign ihres Albums und produzierte in exquisiter Konsequenz repetitive, trancige Sounds, die man einatmen konnte wie die einschlägigen Rauchdüfte und das ganze pulsierte mächtig - was vor allem der Perkussionistin Bex Burch geschuldet war, die durch ihren Krafteinsatz die ganze Band mitzog.
Perfekt geriet schließlich die Symbiose mit dem Publikum bei den Noise-Gewittern der britischen Band „Lighting Bolt“. Die Bassdrones und das Schlagzeug-Trommelfeuer waren schon kilometerweit zu hören und ja – dann wurde auch die Bühne „gestürmt“. Der Festivalleiter bekam Anfragen vom Orga-Team, ob dem Treiben Einhalt zu gebieten sei, aber der winkte an. Denn es stand ja auch der Slogan „Freyhedt“ hinter der open-Air Bühne und so etwas soll ja auch keine Theorie auf Podiumsdiskussionen bleiben.
Das letzte Wort hatte dann wieder Maya Duniez, die in einer hedonistisch-rasanten Disco-House Performance ihr Roland-Keyboard zum Heißlaufen brachte, zusammen mit dem Schlagzeuger Ram Gabay, die noch stundenlang so hätte weiter gehen können. Zusammen Tanzen hat ja auch etwas von „Demonstration“ - bis um 23 Uhr. Moers liegt nun (leider) auch in Deutschland.
Erkundung der Schönheit
Nebst berechtigter Kritik an zu wenig Information in den Programmtexten brachten diese doch an einigen Stellen das künstlerische und kuratorische Anliegen der jeweiligen Artists auf den Punkt – etwa im Fall des Elektronik-Musikers Robert Henke: Dieser erfüllte in der Festivalhalle das so Beschriebene, wenn er auf mehreren archaischen Computern aus den 1980er Jahren sein Publikum auf eine „Erkundung der Schönheit einfacher Grafiken und Klänge“ mitnahm. Fazit: „Alles, was im Rahmen des Projekts präsentiert wird, hätte bereits in den 1980er Jahren gemacht werden können. Aber es brauchte den kulturellen Hintergrund von heute, um die künstlerischen Ideen zu entwickeln, die das Projekt antreiben.“ In diesen Worten steckt die Formel für die produktive Wirklichkeit des ganzen Festivals im Jahr 2022. Disparate kulturelle Hintergründe vereinen sich, reiben sich und reagieren miteinander, treffen aufeinander. Umso mehr, je frischer die Impulse aus dem Heute sind. Das Team um den künstlerischen Leiter Tim Isfort und der Geschäftsführerin der Moers Kultur GmbH, Jeanne-Marie Varain schöpft aus solchen Ressourcen, um in die Zukunft zu blicken.