Kreative Räume ausfüllen...
JOE-Festival 2020 in der Zeche Carl
TEXT: Stefan Pieper und Peter E. Rytz | FOTO: Stefan Pieper und Peter E. Rytz
Gleiche Welle, gleiche Stelle - so könnte man die Essenz des 24. JOE-Festivals in der Zeche Carl in Essen umschreiben, was einer erfolgreichen Fortsetzung gleichkommt. Auch im zweiten Jahr konnte sich das Festival an der neuen Spielstätte mit einem bestens dosierten Programm-Mix eines wachsenden Besucher-Zustroms erfreuen.
Mit Oliver Lutz (b) und Leif Berger (dr) eröffnen zwei Musiker das diesjährige Festival, die auch 2019 dabei waren. Mit Re:Calamari serviert der Kopf der Tintenfisch-Gemeinschaft Lutz ein Sound-Gourmet-Gericht, dass Appetit macht. Nicht zu scharf, aber herzhaft. Jedenfalls nicht einfach zu übersehen, respektive zu überhören. Vor einem Jahr mit Salomea; in diesem Jahr mit Re: Calamari. Anstelle von Yannis Anft (synth) mit Pablo Held (key) dominiert jetzt eine andere Klangfarbe. Wanja Slavin(sax) übernimmt anstelle der außerordentlichen Sängerin Salomea gewissermaßen den vokalen Part mit seinem Altsaxophon. Komplett anderer Sound und im Gesamten durchaus überzeugend. Das Stück Fusion, eine Komposition von Slavin, ist das musikalische i-Tüpfelchen dieses Auftaktkonzerts.
Kreativität heißt, auch mal konventionelle Rollenverteilungen hinter sich zu lassen. Maika Küster und Marie Daniels in ihrer neuen Band „Brenda“ das vokale Prinzip neu. Will sagen: Da ist nicht mehr länger die Sängerin nur „Frontfrau“ vor einer Combo. Stattdessen bilden die beiden vielseitigen Stimmen-Künstlerinnen nebst treffsicher dosierter Elektronik das ganze harmonische Rückgrat – so präsent und reich an Klangfarben, dass sich der dritte im Bunde, Schlagzeuger Jo Beyer gar nicht zurücknehmen braucht. Der Auftritt von „Brenda“ in der Zeche Carl sorgt gleich in mehrerer Hinsicht für Schwebezustände: Flächenklänge und lautmalerische Gesten werden durchs Universum geschickt. Zugleich ist viel beseelte Poesie im Spiel. An Gospelgesänge erinnern die repetitiven Strukturen. Improvisierend vereinte Gesangslinien setzen exotische Melismen frei - und auch der Blues ist im Spiel.
Improvisation ist auch in sozialen und produktiven Zusammenhängen eine ideale Handlungspraxis. So sieht es der Vibrafonist Christopher Dell, der sich über die Musik hinaus als system- und gesellschaftstheoretischer Denker und Autor betätigt. Sein Credo: In einer komplexen Gegenwart braucht es flexibles Reagieren auf den Moment. Dass gerade dies nicht Chaos, sondern reibungslose Fokussierung hervorbringt, demonstrieren er sowie Jonas Westergaard und Christian Lillinger in der Zeche Carl auf musikalischem Wege: Erstmal werfen die drei einen Klangimpuls in den Raum, was an Anton Webern oder Morton Feldman erinnert - aber dann vor Spiellust berstende Steigerung und Verdichtung hervor bringt! Hier sind ein hemmungslos spielwütiger Schlagzeuger, ein brillanter Vibrafonartist und ein impulsschneller Bassist aufs herrschaftsfreie Geben und Nehmen eingeschworen.
In einen ähnlichen Flow, der wieder ganz andere Farben freisetzt, spielt sich das New Yorker Trio um den Schlagzeuger Tom Rainey hinein. Gerade letzterer weiß, perkussive Aktionen faszinierend detailscharf zu synchronisieren, während sich die Saxofonkaskaden von Ingrid Laubrock intensiv an den sphärischen Klangflächen aus Mary Halvorsons Gitarre reiben. Ebenso beherzt spielen sich Rudi Mahall, Oli Steidle, Hendrik Walsdorf und Jan Roder im Rahmen der „Soko Steidle“ mit freigeistiger Wucht in Rage. Diese Sonderkommusion aus der rauhen Berliner Jazzszene improvisiert nicht so sehr aus einer abstrakten Haltung heraus, sondern betreibt eine erfrischende Spurensuche im reichen Ozean des Jazz, um dann die „Ermittlungsergebnisse“ rasant gegen den Strich zu bürsten.
Wie lässt sich eine künstlerische Visitenkarte unmittelbarer abgeben, als in einem selbstbewussten Soloauftritt? John-Dennis Renken kuratierte einst selbst dieses Festival. Heute geht er seinen eigenen Weg. Sein virtuoses, vielgestaltiges Spiel wiederspiegelt auf bestechendem Ausdruckslevel die eigene kreative Persönlichkeit. Den großen Effektreichtum seiner Improvisationen realisiert er vor allem akustisch – und nimmt höchstens mal das Loopgerät zu Hilfe, um aus perkussiven Impulsen eine Textur zu formen.
An allen drei Abenden sind die Sitzreihen in der Zeche Carl gut bis voll besetzt. Herausgenommen wurden die Stühle für den Auftritt der Akustik-Techno-Band „Elektro Guzzi“ - was nicht zuletzt auch die Verjüngung des Publikums fördert! „Elektro Guzzi“ aus Wien sind international längst Kult, wenn sie Festivals wie Sonar und Melt oder das Berghain rocken. Ihr Konzept braucht nicht viele Worte: Knallharter, puristischer, ehrlicher Minimal Techno – diesmal durch gnadenlos repetitive Schlagzeug-Figuren und Myriaden von subtilen Effekten auf der E-Gitarre nebst allen erdenklichen elektronischen Helferlein realisiert!
Und dann sorgt wieder die menschliche Stimme für nichts weniger als eine weitere Erfahrung auf diesem Festival: Sidsel Endresen hat ein charismatisches, auf Anhieb jede Nervenzelle berührendes Organ. Zugleich markiert ihr künstlerischer Weg eine Reise durch die endlosen Weiten musikalischen Grenzgängertums. Ihr Essener Auftritt im Rahmen des Projekts „Azkadenya“ bündelt diese ganze Essenz: Da lebt das Rituelle, Schamanenhafte, was jeden, der sich darauf einzulassen in der Lage ist, in mystische Unterwelten hineinzieht. Diese Stimmlaute, manchmal Melodiefragmente sind kaum fassbar, auch wenn in ausgesuchten Momenten beschwörende Linie daraus hervorgehen. Das alles gerät in eine fragile Kommunikation mit den hauchzarten Aktionen von Vilde Sande Alnaes auf ihrer Violine und den grollenden Drones aus dem Kontrabass von Inga Margrete Aas. Man musste dies erstmal verarbeiten - und wird auch in Zukunft noch oft dran denken.
Etwas weh tat, dass Sidsel Endresens Exklusivauftritt in Essen unmittelbar danach von einer echten „Rausschmeißer“-Darbietung abgelöst wurde. Die Band „Das Behälter“ betrieb das an sich verdienstvolle Experiment, ihren souverän-dynamischen Rockjazz mit einer Art „Theatermonolog“ zu konfrontieren. Dieser Anspruch blieb aber recht bald auf der Strecke, da sich die Performance des Frontmanns FX Ende in einer inflationär überspannten Travestie-Klamaukshow erschöpfte.
Aber Jazz lebt ja vom mutigen Ausprobieren. Improvisation ist immer auch „Trial and Error“, wo dem Nicht-Gelingen auch mal Platz einzuräumen ist. Das sagt und schreibt ja auch Christopher Dell...