Kontemplativer Kontrapunkt zu Karneval
Julia Hülsmann Solo und The Cello Experience
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Die Ankündigung macht den beabsichtigten Charakter des Musikabends bereits klar: „Kein-Karnevalssonntag“. Und so wird der Solo-Abend mit der Pianistin Julia Hülsmann in der kultigen und zurecht prämierten urban urtyp-Reihe in der Bochumer Christuskirche auch zu einem rundum gelungenen Kontrapunkt zu karnevalistischem Treiben.
In dem für die Reihe typisch drapierten Kubus im Clubformat („immer sonntags 19 Uhr, immer 10 Euro, immer anders“) spielt zunächst das Improvisations-Duo The Cello Experience. Warum der Veranstalter diesen Auftritt zu Julia Hülsmanns Solo „support“ nennt, erschließt sich nicht so ganz. Sei’s drum: Daniel Brandl am Cello (und Computer) und Giuseppe Matone an den Drums stimmen mit ihren schwebenden Klangwelten auf einen eher introvertierten und meditativen Grundtenor des Abends ein. Die drei präsentierten Stücke bewegen sich in verschiedenen Facetten von Free, Ambient, Weltmusik, German Prog und Bach und ... – Instrumentierung und Spielweise lassen eigentlich keine klare Etikettierung zu, was sich als wohltuend frisch und urban urtyp-isch erweist. Daniel Brandl ist in der Christuskirche kein Unbekannter, hat er doch sein Solo-Album Solo II dort aufgenommen und tritt häufiger bei feierlichen Anlässen auf. Man darf gespannt sein, was The Cello Experience – so der vorläufige Titel des Duos – in Zukunft live oder für die Konserve produzieren wird.
Und dann der Solo-Auftritt von Julia Hülsmann - mit mittlerweile sechs ECM-Veröffentlichungen vielbeachtete und gefeierte Pianistin und Komponistin. Der kontemplative Kontrast zum Karnevalssonntag erweist sich mit der Pianistin als klug gewählt, zählt Julia Hülsmann zu den „lyrischen“ Tastenkünstlern, die sich durch unaufgeregtes Spiel auszeichnen und die ihre Wirkung eher aus einer inneren Kraft denn aus pianistischer Kräftemeierei beziehen. Ihr Auftritt in Bochum belegt dies eindrücklich. Der Titel Weit weg wird mit leisem Anschlag und verspielten Läufen im Diskant präsentiert, die Randy Newman-Coverversion The Same Girl – sonst im Trio von Julia Hülsmann gemeinsam mit Rebekka Bakken interpretiert – entfaltet im Solo eine tiefe Melancholie, die Singstimme wird dabei von der Melodika übernommen. Basu Waltz strahlt statt ¾-Takt-Seligkeit eine nachdenkliche Ruhe aus - ein bluesiges Stück, das der Katze gewidmet ist, die die Pianistin während eines Aufenthalts in einem New Yorker Apartment betreute. Ihre groovigeren Stücke wie Spiel oder Der Mond, eine Komposition, die während ihrer Rolle als Improviser in Residence 2014 in Moers entstand, basieren auf ostinaten Mustern, über die sie perlende und federleichte Läufe legt. Interessant auch, wie gerne sie Songs covert und in ihr eigenes sensibles Idiom überträgt, etwa bei All I Need von der britischen Rockband Radiohead oder in der Zugabe mit dem Song The Water von der kanadischen Sängerin und Songwriterin Leslie Feist. The Water wird als „Dreier“ gemeinsam mit Giuseppe Matone und Daniel Brandl geboten, die die Improvisation doch ein wenig zu sehr überrascht. Das Publikum wird mit dem balladesken Song The Moon Is A Harsh Mistress von Jimmy Webb in einer ergreifenden Solo-Interpretation entlassen. Sie zeigt wie der gesamte Abend, dass Julia Hülsmanns traumwandlerische Musik eine Gefühlstiefe und Melancholie zu erzeugen vermag, die sich wohltuend von jeglicher Sentimentalität oder falschem Pathos abgrenzt und eine Konzentration auf den wesentlichen musikalischen Kern erreicht. Selten hat man so viele geschlossene Augen im Publikum, einen solchen Drang nach konzentriertem Erleben von Musik gesehen. Der intime an Hausmusik erinnernde Rahmen von urban urtyp passt perfekt zu dieser Musik, er ist eben - gerade am Karnevalssonntag - „anders“.