Keine Diskussionen mehr!
Moers 3.0 lebt
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Wer „der Geisteskrankheit Jazz“ verfallen ist, konnte sich Soforthilfe von einer Therapiegruppe vor Ort holen. „Wege aus dem Jazz e.V“ ist nämlich mit einem Stand im Festivaldorf vertreten. Und da hier wieder mal viele Betroffene und Infizierte zusammen kamen, war das Thema auch gleich für eine abschließende therapeutische Diskussion gut. Ein unmittelbar Betroffener, der sein Geld in das Produzieren von Platten mit improvisierter Musik steckt, sagte aus – natürlich mit verzerrter Stimme.
Das hatte dann schon genug Lacher in der Röhre, einer der wohl lebendigsten Nebenlocations des Moers-Festivals produziert. Dieses kleine Theaterhappening war nur eines von vielen, um die ganzen Befindlichkeiten, Vorurteile, Problemdiskurse im Umfeld der internationalen Pfingstfestspiele am Niederrhein, seiner Macher, Gegner, Befürworter und eben der ganzen Betroffenen, der Akteure und Musikbegeisterten gegen den Streich zu bürsten.
Dass Tim Isfort die theatralische Inszenierung liebt, macht aus der 46. Festivalausgabe viel mehr als nur die Aneinanderreihung möglichst vieler unterschiedlicher Konzerte. Einmal kommt der gebürtiger Moerser, der gerade mit einem Dreijahresvertrag die Kuratierung dieses Ereignisses geschultert hat, mit einer lebenden Henne auf die Bühne. Die auch noch Burkhard heißt. Mit trockener Ironie spricht er über Bedenken des städtischen Ordnungsamtes, was Tiere auf dem Festival betrifft. Wie lebt der vom Festivalgründer einst iniierte Geist im heutigen wachsenden Gestrüpp behördlicher Regularien weiter? Könnte man dieses Bild deuten. Vielleicht aber auch ganz anders.
Nun zur Musik! Dieser geht es bei der 46. Festivalausgabe doch nicht selten darum, rechtzeitig sein Puhlikum davor zu bewahren, mental in die Jahre zu kommen. In diesem Sinne schleudert die belgische Hardcore-Punkband „Cocaine Piss“ ihre Soundbretter und deren Frontsängerin ihr rotziges Gekreische mitten ins Publikum hinein, dem zum Teil der Mund offen stehen bleibt. Die Mittelbühne im Zentrum der Festivalhalle sorgt für noch mehr Direktheit bei so etwas! Aber es geht noch heftiger, ja, tatsächlich sogar schmerzhafter - zumindest für den, der beim Konzert der US-Industrial-Band „The Swans“ auf Ohrenstöpsel verzichtete. Wer fast drei Stunden lang in die überlauten, psychedelischen, oft von lang ausgedehnten Mollakkorden gespeisten Soundkaskaden des altgedienten Underground-Sextetts eingetaucht war, war um eine neue, auch körperlich fordernde Erfahrung reicher geworden.
Jazz in Moers kommt nach wie vor eher punktuell dosiert vor - und strebt schnell wieder aus jeglichen Konnotationen mit vier Buchstaben hinaus. Zum zehnten Mal gab sich Saxofonist Anthony Braxton die Ehre. Kolossal, fein verästelt, zugleich sehr detailverliebt türmt sein Großensemble die Ideengeflechte nur so auf. Was erhaben bis ehrenwert wirkt, manchmal aber auch etwas hermetisch und verkopft daher kommt. Viel direkter, energetisch-treibender, dabei unfassbar reaktionsschnell eroberte eine Triobesetzung ihr Publikum: Sylvie Courvoisier verschaltet ihre schwerelos-funkelnde Pianistik mit Saxofonströmen von Evan Parker - derweil Ikue Mori in gewohnt versteinerter Haltung hinterm Laptop die Klangströme lenkte.
Isfort gibt einzelne Bereiche der Programmierung an produktive Mitstreiter ab. Zum Beispiel an Jan Klare, der gute Kontakte zur belgisch-niederländischen Musikszene pflegt. Entsprechend wird Flandern zum kleinen Länderschwerpunkt in Moers. Zum einen mit der herrlich freigeistigen Improvisationsmusik von „De Baeren Gieren“. Zum anderen mit dem sattesten, zugleich gegenwärtigsten Blues, der zu Pfingsten auf diesem Planeten erklang, seitens der Band „Rubatong“, wo ein weiterer „ewiger“ Moerser Protagonist, der Bassist Luc Ex die Saiten der Bassgitarre beackert.
Die große Menge an unterschiedlichsten Konzerten verführt nicht selten dazu, in vieles nur kurz „hineinzuhören“. Aber viele Konzerte beim 46. Moers-Festival sind lebende Antithese dieses Prinzips. Nachhaltig taucht jener ein, der sich aktiv zuhörend hörend hinein versenkt. Das amerikanische Dub-Trio sorgte diesbezüglich für genug meditative Verdichtung. Erstaunlich ist, wie flexibel der Instrumentalsound dieses Trios ständig zwischen Metal und Dub hin und her mutiert. Faszinierend vor allem das Schlagzeugspiel von Joe Tomino.
Und es gibt Songs ins Moers. Und zwar solche, die ergreifen und tief berühren. Dorian Wood aus Kalifornien singt mit androgyner Stimme auf spanisch und englisch. Melancholisch, sehnsüchtig, aber auch ekstatisch ausbrechend sind seine Stücke. In der Moerser Sankt Josefskirche musizierte er für sich allein – auf der Hauptbühne enthielt er Unterstützung vom Ruhrgebietsensemble Crush – einmal mehr ein Beispiel, wie unkompliziert sich internationale Künstler mit NRW-Musikern zu produktiven Projekten verbinden können.
Tim Isfort engagiert sich stark für internationale, kulturenübergreifende Musikprojekte. Also kamen auch zwei Großprojekte aus Myanmar sowie aus dem Kongo in Moers zur Aufführung. Letztere Musiker aus Zentralafrika hatten erst mal mit langen behördlicher Sturheiten bei der Visa-Erteilung zu kämpfen gehabt. Aber dann boten Radio Kinshasa“ unter Mitwirkung des Berliner Schlagwerkers FM Einheit und dem australischen Figurentheater Snuff Pupptes eine eindringliche Performance, die viel mehr war als nur schnödes Weltmusik-Entertainment.
Braucht diese Stadt dieses Festival? fragte mitten zur Primetime auf der Hauptbühne eine „Podiumsdiskussion“ der besonderen Art. Die Teilnehmer sind Lautpoeten und Performance-Künstler, die skurrille Grimassen, dekonstruierte Wortschnipsel und Gebärden zu einer genialisch-virtuosen Kollektiv-Ursonate verwirbeln. Eine Stadt braucht Menschen. Und die Kreativität von Menschen. Und dafür ist anarchische Fantasie ein Treibmittel. Auch mal ganz ohne die sonst auf Diskussionspodien üblichen Worthülsen. „Jetzt sind Sie alle schlauer in dieser Frage,“ schloss Tim Isfort nach diesem Auftritt die Debatte ein für allemal.