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Junge und alte Avantgarde

Doppelkonzert in Bochum

Bochum, 08.03.2014
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker

An zwei Tagen hintereinander Free Jazz in Bochum – diese Dosis müssen die Jazzliebhaber erst einmal verkraften. Dies fällt nicht schwer, sind doch zu den beiden Terminen Doppelkonzerte zu vermelden in höchst interessanter Besetzung und Spielart der nicht unbedingt massenkompatiblen Richtung des Jazz.

Am Donnerstag spielt in den Kunsthallen der Rottstraße5 das Essener/Kölner Trio „The Pott“ mit Julius Gabriel (Tenor- und Bariton-Sax), Constantin Herzog am Kontrabass und Fabian Jung am Drumset. Julius Gabriel hatte in derselben Location bereits vor einiger Zeit mit seinem Mentor Gunter Hampel spielen können, er organisiert auch für die Kunsthallen der Rottstraße5 unterschiedliche junge Nachwuchsmusiker der heimischen und der zufällig durch NRW vagabundierenden internationalen Szene. Die Rottstraße 5 etabliert sich somit immer mehr zu einer Plattform für improvisierte Musik mit genreübergreifendem Anspruch. Das Trio macht dann auch den Auftakt zu dem 2-stündigen Konzert. Es beginnt sehr ruhig mit ein paar Tönen, die die Musiker ihren Instrumenten entlocken – das Sax mit einem Ostinato im hohen Register, der Kontrabass folgt dieser Klangfolge, die Perkussion wird mehr als Instrument der Klangerzeugung denn als Rhythmusinstrument eingesetzt. Vor allem die waagrecht positionierte Bassdrum dient Fabian Jung als klangliches Experimentierfeld. Was zunächst scheinbar zusammenhanglos beginnt, entwickelt sich immer mehr zu einem klanglich höchst differenzierten und immer wieder changierenden Sound-Ensemble. Erwartbar für ein Free Jazz-Konzert steigert sich die Dynamik zu einem Fortissimo, ohne jedoch den nuancenreichen Klangcharakter des Zusammenspiels zu verlieren.

Nach dem Auftritt von „The Pott“ betritt „Wahrchester“ die Bühne. Dieses Trio mit Brad Henkel an der Trompete, Anna Weber (Tenorsax und Flöten) und Liz Kosack an den Keys stammt aus New York, man kennt sich allerdings aus Berlin und Köln und tourt gemeinsam durch die Republik. „Wahrchester“ setzt sich zwar optisch von der vorausgegangenen Combo ab: Man tritt maskiert in einem Stuhl-Halbkreis auf. Ihr musikalischer Ansatz ist jedoch dem von „The Pott“ wesensverwandt. Auch hier wird sehr auf die klangliche Performanz gesetzt, die Instrumente erfahren alle drei einen eher atypischen Einsatz, wenn die beiden Bläser Atemgeräusche verstärken, der Trompeter mal mit, mal ohne Mundstück Töne erzeugt oder Liz Kosack ihr Keyboard nicht für Akkorde oder Flächen einsetzt, sondern die hohen Töne der Bläser aufgreift und mit ihrem Synthesizer klangräumlich erweitert. So entsteht ein hoch interessantes Soundspektrum im eher höher frequenten Tonbereich. Die Wirkung ist durchaus verstörend und gemahnt an den Lockruf der Sirenen. Was als „Hardcore-Free-Jazz“ angekündigt war, verliert seinen vielleicht abschreckenden Charakter durch den variantenreichen Sirenengesang, der – auch dies dann durchaus Free Jazz-konform – stellenweise zu einem Sirenengeheul mutiert.

Im dritten Set vereinigen sich die beiden Trios, hierbei wird ihre hohe Übereinstimmung im klanglich-spielerischen Konzept deutlich. Dem Sextett gelingt eine wunderbare Synthese aus den Stärken des jeweiligen Trios. Das Klangkonglomerat entwickelt einen dynamischen und verführerischen Sound mit stark suggestiver Wirkung. Anders als in der Mythologie endet der Sirenengesang nicht tödlich, die jungen Musiker hinterlassen ein begeistertes Publikum.

Am Freitag dann ist im Rahmen der Reihe ‚soundtrips NRW’ die in 5 Jahren nunmehr 18. (!) musikalische Rundreise von hochinteressanten und immer wechselnden Vertretern der regionalen und internationalen Improvisationsszene zu erleben – in Bochum ausnahmsweise nicht im angestammten Kunstmuseum Bochum, sondern aus organisatorischen Gründen im Rittersaal von Haus Kemnade in Hattingen. Dieses Mal hat der Perkussionist Martin Blume neben dem Gitarristen Erhard Hirt zwei Vertreter der englischen Improvisations-Szene, ja: zwei wahre Legenden der Avantgarde-Musik eingeladen: Phil Minton (Stimme) und John Russell (Gitarre). Der Auftritt der vier im vielleicht nicht so ganz standesgemäßen Rittersaal ist in vier Duos und einem Ensemble-Spiel aufgeteilt. Den Einstieg machen die beiden Westfalen, ihnen gelingt mit den melodiösen Drums von Martin Blume und der effekt-vollen Gitarre von Erhard Hirt eine gelungene Einstimmung in die Improvisation, die in dem folgenden Duo der beiden Briten einen ersten Höhepunkt erreicht. Phil Mintons Stimmkunst überrascht mit einem unglaublichen Arsenal von Klangerzeugung: von Vogelgezwitscher über Wortfetzen, Lippengeräusche, Grunzen bis hin zu arienhaften Anklängen collagiert Phil Minton alles, was der menschliche Klangapparat hergibt. John Russell nimmt dies wunderbar mit seiner akustischen, leicht verstärkten und sichtlich betagten Gitarre auf, elektronische Hilfsmittel braucht er nicht, um mit seinen sechs Saiten Magie von schnellen Läufen und unvorhergesehenen Akkorden zu erzeugen. Interessanterweise „harmonieren“ beide Gitarren anschließend trotz eines völlig verschiedenen Konzeptes: hier die Konzentration auf die Gitarre mit ihrem rein „akustischen“ Potential für die Improvisation, dort die Erweiterung des Instruments durch allerlei elektronische und digitale Hilfsmittel. Das Ensemble-Spiel der vier dann zeigt: Hier sind Musiker am Werk, die schon lange als Profis und Experten in vielen Konstellationen, auch gemeinsam, improvisierte Musik machen. Ihr Einfallsreichtum beim instant composing, ihr kohärentes Spiel trotz eines scheinbaren Nebeneinanders, ihre Experimentierfreude stecken an. Zur Originalität des Stimmwunders Minton kommt seine unglaubliche performative Präsenz hinzu: Der vokalen Vielfalt entspricht eine ebensolche in mimisch-expressiver Hinsicht. Entlassen wird das Publikum nach einem furiosen Tutti mit einem leiser werdenden Vogelgezwitscher – wenn das kein gelungener Vorbote des kommenden Frühlings ist.

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