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JOE-Festival-Nachlese Vol. II

Unterwegs sein, aber sich nicht im Suchen verlieren

Essen, 06.03.2023
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Peter E. Rytz

Die Programmmacher Patrick Hengst und Simon Camotta, selbst Musiker mit spezifischem Ruhrgebiets-Feeling, haben mit feinem Gespür für den jazzigen Sound der Zeit Musiker unterschiedlicher musikalischer Temperamente auf die Bühne der Zeche Carl geholt. Eine äußert ambitionierte Mischung von Musikern, die als ECM-Heroes einen authentischen, mit Alleinstellungsmerkmale signierten Sound verkörpern, zu dem andere noch unterwegs sind. Drei Tage in Essen zwischen JOE in der Zeche Carl Essen und einem Intermezzo im Alten Bahnhof Kettwig bei einem Jazz-Vortrag von Sven Thielmann hinterlassen satte, Jazz affine Eindrücke.

Unterwegssein bedeutet allerdings keineswegs, sich im Suchen zu verlieren. Sie befinden sich, wie ihre Konzerte hörbar belegen, in einem elaborierten Findungsprozess. Die drei Festivaltage überraschen mit einer Symmetrie, die den Freitag zwischen dem Auftakt am Donnerstag und dem finalen Sonnabend zu einer Wahlentscheidung herausfordert.

Ein Abstecher zum Alten Bahnhof Kettwig

An diesem Abend (zeitgleich zum zweiten Festivaltag) lädt der Fotograf Sven Thielmann zu Miles & more, zur Foto-Video-Präsentation seiner 40jährigen Arbeit als Jazz-/Musik-Fotograf in den Alten Bahnhof Kettwig ein. Die Entscheidung für dieses Angebot erweist sich auch im Nachhinein als eine lohnende weil aufschlussreiche. Eine Chance, seine kreativ distinktive fotografische Arbeitsweise en détail kennenzulernen, die nicht alltäglich in diesem Business ist.

Thielmanns Fotografien, die dem Jazz über viele Stationen von Nordrhein-Westfalen (Essen, Köln, Düsseldorf) nach Berlin über Den Haag bis nach Montreux und Willisau folgen, überzeugen in der Art eines visuellen Jazz-Archivs mit besonderen Perspektiven sowie außergewöhnlichen Begegnungen und Interviews, beispielsweise mit Miles Davis beim Jazzfest Berlin 1986.

Zahlreiche ECM-Referenzen beim JOE-Festival

Zurück zum JOE-Programm und den mit ECM-Musikern besetzten Konzerten. Sie bilden eine musikalisch interessante Klammer des Festivals. Der erste Tag schließt mit dem Jakob Bro Trio ab und reflektiert direkt den Sound der 2021 veröffentlichten CD Uma Elmo (Von Schönheit und Vergänglichkeit, hier rezensiert)in der identischen CD-Besetzung mit Arve Henriksen (tp) und Jorge Rossy (dr). Und noch mehr: Sie leitet das Ohr noch weiter auf Bro’s mit Joe Lovano 2022 veröffentlichte CD A Tribute To Paul Motion (Rezension als Appendix dieses Textes verfügbar).

Das letzte Festivalkonzert bestreitet Craig Taborn (p) mit Tomeka Reid (cello) und Ches Smith (dr). Es setzt ein dickes Ausrufezeichen hinter ein ambitioniert zusammengestelltes Programm. Und ist gleichzeitig eine Reminiszenz an seine hoch gelobte ECM-CD Shadow Plays von 2021 (Paradoxe Schattenspiele, hier rezensiert). Zudem ist sie auch eine an Reids Auftritt beim letzten Jazzfest Berlin (Bleibt alles anders?) als auch an Smith’s Konzert mit Marc Ribot 2019 im domizil Dortmund (How to walk in freedom).

Patrick Hengst und Simon Camatta haben eine erfolgreiche Vielstimmigkeit realisiert

Zurück zu JOE 2023. Hengst und Camatta stimmen die Festivalgäste des ersten Tages auf eine breite Vielstimmigkeit ein. Dem lautstarken Wachmacher zu Beginn mit dem Duo Narr/Steidle folgt ein poetisch gestimmtes hilde-Hörerlebnis, um mit elegisch meditativen Soundschatten wie bei einem mythisch aufgeladenen Abendlicht zu schließen.

Steffi Narr lässt ihre Elektrogitarre overtuned bizarr dröhnen. Oli Steidle treibt mit Staccato-Heftigkeit vorwärts. Sie motivieren sich gegenseitig zu berserkerhaft protzenden Höhenflügen. Narr dreht an den Electronics-Knöpfen. Ihre Gitarre hängt ihr nach und nach fast nur noch locker lässig über die Schulter. Steidle befeuert über mehrere Minuten mit brachialen Drum-Beats den Dialog. Nach etwa 20 Minuten läuft er sich langsam leer. In gedimmter Lautmalerei verliert sich ihr Sound im Irgendwo.

Danach mit hilde durchzuatmen, streichelt die reichlich strapazierte Seele. Seit fünf Jahren segeln Julia Brüssel (viol), Marie Daniels (voc), Maria Trautmann (tb) und Emilx Wittbrodt (cello) mit ihren Klangphantasien erfolgreich auf einer Harmonie gesättigten Horizontlinie. Melancholisch versichert, fügen sie in ihrem Spiel freie Improvisationen mit Eigenkompositionen in verschlungenen Strukturen in einem Instant Composing zu ihrem eigengeprägten Sound.

Daniels Stimme, von einer lyrischen Mitte ausgehend, öffnet Räume, die die Saiteninstrumente mit abstrakten Arabesken ausmalen. Schwingende Saiten, vibrierende Stimmbänder und die Posaune von Trautmann mit ihren exponierten Luftströmen vereinen sich in träumerischer bis radikal aufgekratzter Unmittelbarkeit.

Liebeserklärung an die Schönheit des Lebens

Das Konzert des dänischen Komponisten und Gitarristen Jakob Bro zusammen mit dem norwegischen Trompeter Arve Henriksen und dem spanischen Drummer Jorge Rossy interpretiert den Sound der CD-Uma Elmo, die sich und die Zuhörer in emotionalen Höhenflügen geradezu sonnt. Es ist eine Liebeserklärung an die Schönheit des Lebens, die es jeden Tag zu entdecken gilt (Beautiful Day). Henriksens Trompete jubiliert tiefenentspannt, teilweise mit dem Flügelhorn somnambul entrückt. Immer schwingt auch eine Melancholie mit, die von den Schattenseiten des Seins weiß.

Bros’ Gitarre flirrt, begleitet Trompete und Flügelhorn mit emphatischer Modulation. Sie verdichten das Melos zu eigenen Sound-Lines. Die dieser Musik vielfach attestierte große Tiefe, die keine Eile hat, nähert sich mit Worten dem, was in dieser Form eigentlich nicht wirklich zu beschreiben ist. Roosys punktiertes Druming, eine mitunter fast unhörbar leise, körperlich eingegroovte Resonanzverstärkung, Henriksens flüchtig zarte, permanent suchende Tonfolgen, Bros‘ filigran sensibles Gitarrenspiel: In summa ein erkundendes Ausleuchten von Räumen zwischen Anfang und Ende.

Selbstbewusstes Unterstatement

Felix Waltz – Pianist, der auch auf Electronics vertraut sowie Producer ist - eröffnet mit Tim Bücher (git), Caris Hermes (b) und Karl F Degenhardt (dr) das JOE 2023-Finale mit einer Mischung zwischen Modern Jazz, Beatmusic und Experimental Electronica. Auf Hochspannung gestimmt, motiviert Waltz mit selbstbewusstem Understatement. Ich spiele mit den Musikern, die auch meine besten Freunde sind. Und wenn wir mal Zeit haben, werden wir zusammen Urlaub machen.

Büchers Gitarre stimmt Waltz‘ Piano-Keyboard-Motiv mit klangmalerischer Überzeugung zu. Als Duo an den Electronics zusammengerückt, drehen sie den Spannungsschalter hoch. Degenhardt zieht mit Snaredrums, Toms, Crash- und Ride-Becken eine Basslinie ein, die die Bassistin Hermes mit viel Gefühl wie mit ebenso großer Energie vorwärts treibt.

Diese Waltz-Vorgabe radikalisiert Sophie Agnel mit dem präparierten Klavier in extremis. Michael Vatchers Drums arrondieren mit machtvoll demonstrierenden Beats einen Klang-Geräusch-Kosmos, der von Joke Lanz an den Turntables skizzenhaft kommentiert wird. Vatchers körperbetonter Einsatz, Lanz‘ mixed notes und Agnels pianistisch konjugiertes Pianospiel umkreisen eine surreal gebaute Mitte. Eine, die sich in der Instabilität wohler fühlt, als in harmonisch gesättigter Gefühligkeit.

Drei Tage in Essen zwischen JOE in der Zeche Carl Essen und dem Thielmann-Intermezzo im Alten Bahnhof Kettwig hinterlassen satte Jazz affine Eindrücke.


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