Jazzkontraste in Münster
Eine Festival-Nachlese
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Peter E. Rytz
Zwischenstopp auf dem Weg zum 46. Internationalen Jazzfestival Münster im Kunstmuseum Pablo Picasso. Die titelgebende Ausstellung Mona Lisa zum Anbeissen – Kunst und Werbung schlägt zwischen beiden Aspekten einen verbindenden Bogen mit ironischem Unterton. Parallel zu Picasso, Matisse und der Orientalismus, einem Exkurs in florale und maritime Ornamente polynesischer Quilts, sogenannte Tifaifai – sie haben die Scherenschnitte von Henri Matisse beeinflusst - befindet man sich beim Aufschlagen von dessen Malerbuch Jazz in einer kreativen Spur nur wenige Minuten entfernt vom Internationalen Jazzfestival um die Ecke im Theater Münster.
Das Potential künstlerischer Kommunikation über Genregrenzen hinweg, das in den Ausstellungen wahrzunehmen ist, setzt sich musikalisch beim Jazzfestival fort. Alle sind sie wieder da! Die ewig Junggebliebenen sowieso, und für die etwas jüngere Generation gibt es am Sonntag das Familien-Konzert! Seit 40 Jahren konzipiert Fritz Schmücker so facettenreich das Programm, wie er eloquent sympathisch und unterhaltsam den Auftritt der Musiker moderiert. Dass alle Konzerte binnen weniger Stunden nach Kassenöffnung im Internet, ohne dass das Programm schon in Gänze bekannt wäre, verkauft sind, spricht für sich.
Schmücker - die Qualitätsversicherung der Jazzkonzerte in persona – versteht Musik insbesondere in Zeiten globaler Verunsicherungen als Sinnbild von Menschlichkeit. Kommunikation in Gleichberechtigung, Respekt und Toleranz füreinander. In diesem Miteinander läge die Zukunft der Weltgemeinschaft. Musiker aus mehr als 20 Ländern hat er eingeladen. Drei Tage inspirierender Musik, die das Prinzip Hoffnung unter Strom hält. Beispiele dafür, dass, wenn es für Momente so scheint, als könne es nicht weitergehen, es doch einen gemeinsamen Weg gibt, bestimmen neben dem zu erwartenden Selbstverständlichen von Groove und Emotionen das Festival.
Von Kraftreserven und spontanen Sternstunden
Die erkrankte Pianistin Chaerin Im mobilisiert für das Konzert mit ihrem Quartett – eine Deutschlandpremiere! - im Kleinen Haus, wie sich nachträglich herausstellt, ihre letzten Kraftreserven. Für das Abendkonzert mit dem Jasper Høiby's Three Elements reichen sie nicht mehr. Ein Pianist wird binnen zwei Stunden gesucht – und mit Daniel Garcia Diego gefunden. Um 18 Uhr eröffnet er mit seinem Sextett das samstägliche Abendprogramm. Er – von vielen als der aufregendste spanische Pianist der Gegenwart bezeichnet – versammelt in seinem Sextett Musiker aus unterschiedlichen musikalischen und geografischen Hintergründen. Gemeinsam zelebrieren sie The Shape of Fire (im November 2024 als CD veröffentlicht). Ein Feuerwerk, das Komposition und Improvisation instrumental mit dem Gesang der charismatischen Delaram Kafashzadeh in poetischer Dichte verschmelzt.
Mit Jasper Høiby und Jamie Peet hat Diego eine Stunde Zeit, sich in den Høiby-Klang-Kosmos, der eine Reise zu den Elementen der Natur imaginiert, einzustimmen. Es gelingt ihm auf staunenswerte Weise, die von Høiby konfigurierten Bass-Modi und Peets kraftvolle wie lyrische Drumming Beats in sein Klavierspiel einzubinden. Das über die Tage jederzeit hochgestimmte Publikum feiert das Trio mit nicht enden wollendem Beifall.
Schmückers Konzeption, Neues, bisher weniger Bekanntes mit Meilensteinen der Geschichte des Jazzfestivals kontrastreich zu verbinden, ist ein unbedingtes Alleinstellungsmerkmal auch in diesem Jahr. Es fordert die Zuhörer heraus – und mutet ihnen zugleich viel zu. Mitunter wird es zu einer emotionale Berg- und Talfahrt. Eben noch tief versunken, träumend der außergewöhnlichen Klangfarbigkeit von Harfe (Alina Bzhezhinska) und von Saxophon (Tony Kofi) hingegeben, fortgesetzt mit dem kurzfristig elaborierten Høiby-Trio, fokussiert Louis Sclavis mit seinem Quintet als Elder Statesman der Bassklarinette und des Saxophons Erinnerungen an Indien. Jahrzehnte nach dem bahnbrechenden Album Chine besticht er zusammen mit den einer jüngeren Generation zugehörigen Sarah Mucia (b), Benjamin Moussay (p), Christophe Lavergne (dr) sowie dem glanzvoll phrasierenden Trompeter Olivier Laisnay durch melodisches und improvisatorisches Raffinement.
Dass auch in einem solchen ambitionierten Festivalprogramm wie dem in Münster 2025, Kontraste nicht immer unbedingt im Ohr des Zuhörenden funktionieren müssen, ist kein Widerspruch per se. Sie sind Teil eines fairen Angebots. Programmatische Selbsterläuterungen, wie beispielsweise Jan Klare den Stil seiner Formation KIND mit Controlled Deranged ProgChamber beschreibt, die zum Eintauchen in ihre Musik stimulieren wollen, sind eher redundant. Ein mehr oder weniger selbstverständlicher Anspruch eines jeden Konzerts.
Ähnlich das Konzert von Pauline Réage mit der extrovertierten Sängerin und Slam-Poetin Anne Munka, die sich dramatisch, empathisch und lyrisch in Selbstspiegelungen verlieren. So komplex harmonisch die Songs strukturiert sind, muten sie wie Orientierung verlorene Wanderer in einer weiten Landschaft an.
Finale furioso: Von meditativen Klängen zur Sunbird-Reise
Das Sonntagabendkonzert wird standesgemäß durch die Preisträgerin des Westfalen-Jazz 2025, die Pianistin und Komponistin Clara Haberkamp mit ihrem Trio eröffnet. Mit dem umtriebigen Schlagzeuger Jarle Vespstad (mit metaphorischem Understatement auf der 2022 veröffentlichten CD Opening mit dem Tord Gustavsen Trio) und dem druckvollen Bassisten Oliver Potratz (langjähriger Sideman von Eric Schaefer) hat sich Haberkamp der Musikalität gestandener Professionals versichert. Haberkamps Spiel ist von der rhythmischen Suche nach einem nachhaltigen Miteinander-Gegeneinander-Flow mit ihren musikalischen Partnern bestimmt. Ihrem Spiel – Songs auch ihrem Albums Plateaux - sind thematisch spezifizierte Schichtungen eigen, die sie auf speziell arrangierten Tabletts servieren. Die Menüs sind vielfältig geschmackvoll: If you could read my mind oder Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt. Gerahmt von Haberkamps Cover-Song Danny Boy, der heimlich Nationalhymne Irlands, wie sie augenzwinkernd bemerkt.
Als eine lyrisch poetische Klangskulptur erweist sich in der Dominikanerkirche die Improvisation for mit dem Saxophonisten Tony Kofii. 45 Minuten lang umkreist er das die Zeit ins Unendliche ausschwingende Foucault'sche Pendel in der Rauminstallation von Gerhard Richter. Magische Momente als sequenzierte Hör-Zeit jenseits des Raumes
Eine der Entdeckungen des Festivals ist der 28jährige Saxophonist Xhosa Cole. Er steht beispielhaft für Schmückers vielfältige Ideen-Fundstellen. Neben seinem Hineinlauschen in die Szene sind es mitunter sich als Wundertüte erweisenden Tipps von aufmerksamen Jazz-Zeitgenossen. Cole, empfohlen von Alex McGuire, einem der Macher des Vortex Jazz Club in London, gibt im Duo mit Tim Giles (dr) ein Percussion-Art-Statement furios und lyrisch zugleich ab. Mit seinem Freemonk-Projekt - neben Giles erweitert mit Josh Vadiveloo (b) und dem introvertiert aufmerksamen Pianisten Pat Thomas (als ISM-Trio beim Moers Festival 2021 mit einem Dauer-Cluster-Kaskaden-Strom: Mögliches im Unmöglichen vom 26.05.21) – verbeugt er sich vor dem unvergleichlichen Jazz-Hero Thelonius Monk.
Freemonk steht unmittelbar nach dem Meditationstrip in die magischen Weiten des Universums mit dem Yoga-Klarinettisten Yom und den Gebrüdern Ceccaldi (Violine und Cello) beispielhaft für die konzipierten Jazzfestival-Kontraste. Coles unbedingte, konsequente Monk-Spuren werden emotional von Yom & Co kontrastiert. Ihre zutiefst menschlich empfundene, ein Bedürfnis nach Universalität und Spiritualität ausdrückende Musik gräbt sich tief in die Seelen der Zuhörenden ein.
Einige Festivalbesucher mögen unter Aufbietung aller physischen und psychischen Kräfte nach mehr als 20 Stunden Jazz über drei Tage und Nächte noch die Konzentration nach Freemonk auch für das Abschlusskonzert mit Andrés Coll Odyssey aufgebracht haben. Sie hat sich allemal gelohnt. Der 24jährige Coll, auf Ibiza aufgewachsen, frühzeitig seiner musikalischen Begabung gefolgt, an die Tür des Jazz-Pianisten Joachim Kühn geklopft, diese von ihm aufgetan (Coll hat eine große Zukunft vor sich) und fortan von ihm gefördert, mischt er mit jugendlich unbändiger Spielfreude seit geraumer Zeit die Jazz-Szene auf. Als Sunbird, so auch der gleichnamige Titel seiner jüngst veröffentlichten CD, segelt er mit dem elektrisch verstärkten Marimbafon von der Mittelmeerinsel in die Welt.
Vom legendären Kühn Trio (2011 in Münster) hat Coll den agil energischen Schlagzeuger Ramon López und den marokkanisch mystischen Guembri-Virtuosen Majid Bekkas sowie weiterhin den Violinisten Mateusz Smoczynski gleichsam geborgt und überzeugen können, mit ihm auf eine Sunbird-Reise zu gehen. Der fulminante Abschluss eines facettenreich konzipierten, qualitativ überzeugenden Festivals.
Hintergrund- und Abschiedsmusik: 2029, die 50.Ausgabe des Festivals. Viele haben sich dieses Termins schon lange versichert. Peter E. Rytz