„Jazzbaby!“

Es ist noch hell, als Verena Geiger vom ‚Literaturhaus Herne Ruhr‘ das Konzert eröffnet (Foto o.r.). Heute gastieren hier Stefanie Boltz und Christian Wegscheider mit ihrem Programm „Jazzbaby!“ . Nach der langen Corona-Pause finden seit Sommer 21 hier wieder Veranstaltungen statt.

Jazz in der Buchhandlung

Die Koethers & Röttsches Buchhandlung im Literaturhaus in der Herner Innenstadt gibt es schon seit langem als Familienbetrieb. Im Hinterhof war seit 1926 die ‚Alte Druckerei‘ angesiedelt, in der der ‚Herner Anzeiger‘ und später die ‚Ruhr Nachrichten‘ gedruckt wurden. 2015 wurde der große Raum der Druckerei zu einem Veranstaltungssaal umgebaut. Der 2015 gegründete Verein 'Literaturhaus Herne Ruhr e.V.' bespielt seitdem den Ort mit einer Bühne und 120 Sitzplätzen. Vor allem Lesungen finden statt in diesem großen, geschmackvoll mit alten Möbeln aus dem Familienbesitz gestalteten Raum. Auch in anderen Buchhandlungen gibt es Lesungen, doch hier gehören auch Konzerte zum Programm. Im letzen Mai ist dort das 'Ellington Trio' aufgetreten. Außerdem wurde 2016 im Zuge eines Umbaus ein Café gegründet, so dass man im Verkaufsraum beim Ansehen der Bücher auch einen Kaffe trinken kann.

Stefanie Boltz und Christian Wegscheider - ‚Bayern meets Tirol‘

Stefanie Boltz stammt aus München-Schwabing. Seit 2011 spielt sie mit dem Bassisten Sven Faller das Duo Le Bang Bang. 2018 erschien ihr Album The Door mit 13 Eigenkompositionen. In Herner Literturhaus war sie zuletzt im Dezember 2019 zu Gast mit dem Programm "Midwinter Tales", begleitet von Sven Faller am Kontrabass und Martin Kursawe an der Gitarre.
Christian Wegscheider kommt aus Österreich. Mich hat er unwillkürlich an Georg Kreysler erinnert, auch wenn Christian gar nicht singt und musikalisch in einer höheren Liga spielt. Er hat 1993 in Graz das ‚Konzertdiplom Jazzklavier‘ erworben, später eine zwölfbändige Lehrbuchreihe ‚Jazz Club: Jazz spielend lernen’ herausgebracht und in verschiedenen Bands gespielt. Er spielt auch Akkordeon.
Stefanie Boltz hat vor Jahren Christian bei der Suche nach einem lokalen Musiker für ein kleines Festival am Achensee kennengelernt. Die beiden sind inzwischen oft im Duo ‚JazzBaby!‘ zusammen aufgetreten und haben 2021 das Album A Tamed Tiger’s Roar veröffentlicht. Diese CD wurde mit einer Band von 9 Musikern aufgenommen. Für Ironie haben beide etwas übrig, z. B. wenn sie ihre Musik als Beitrag zur ‚Völkerverständigung - Bayern meets Tirol‘ ausgeben.

‚A Tamed Tiger‘s Roar’

Das Konzert beginnt mit einem langen kraftvollen Intro des Pianisten, hier ‚Prolog‘ genannt. ‚For Weeks‘ heißt dieses erste Stück, das auch am Anfang des in der Corona-Zeit entstandenen Albums ‚A Tamed Tiger‘s Roar’ steht. Das Duo spielt vor allem Eigenkompositionen wie Marvelous, Scuse Me und Never Loved Before und stellt damit seine CD vor. Titel werden allerdings nur selten angesagt.
Der Blues 'Marvelous' klingt trotz des bluesigen Timbres gar nicht traurig, eben Marvelous. Auch Here comes the sun von den Beatles ist zu hören in einer sehr freien interessanten Interpretation.
Christian Wegscheider ist ein begnadeter Pianist. Er spielt sehr virtuos und akzentuiert, dominiert aber stark, denn spätestens bei Scuse Me (Excuse Me? Scusami?) ist vom Gesang nicht mehr viel zu hören. Das Piano übertönt mit seiner Lautstärke alles, schade.
Im ‚Werbeblock’ preist er sehr sympathisch und selbstironisch im reinsten österreichischen Dialekt den auf seinem Weingut gebrannten Schnaps an, der mit dem Vinyl Album zusammen günstig verkauft wird.

Im zweiten Set ist die Akustik ausgewogener. Bob Dylan's Don't Think Twice wird recht bluesig gecovert (s.o.). Das Duo ist wirklich sehr vielseitig. Jazz, Chanson, Blues, Kammer- und Filmmusik, all das gehört zum Repertoire und geht auch in die gemeinsamen Kompositionen ein, die trotz enormer Probleme in der Corona-Zeit auch grenzübergreifend stattgefunden haben. Bei einem Stück kommt beim Gesang der Looper zum Einsatz; das scheint im Moment ein must have zu sein, egal obs passt oder nicht. Die Ergänzung des Gesangs mit eigenen Scats und Vokalisen macht hier kaum Sinn, weil die Anteile kaum zu unterscheiden sind und recht blass wirken. Gegen Ende kommen auch Standards wie Irving Berlin’s Cheek to cheek zum Einsatz.

Piano versus Vocals?

Stefanie Boltz singt nicht nur, sondern agiert auch mit ausgiebiger, wohl einstudierter Gestik. Sie ist eher eine Freundin der hohen und leisen Töne. Auch im Rahmen ihrer Sopranstimme singt sie meist sehr hoch, tiefere Töne sind selten. Sie flüstert haucht, singt in Vokalisen und ist oft nah am Sprechgesang. Ist das mit dem brüllenden „tamed Tiger“gemeint? In der Kombination mit dem massiven Piano-Spiel von Christian kommt sie jedenfalls, auch wenn dieser sich zurücknimmt, nur schwer gegen ihn an. Ist das vielleicht in Kombination mit einem Bassisten anders oder ist die Raumakustik hier schwierig? Auf jeden Fall klingen die Studioaufnahmen mit der Band anders.
Bei den Zugaben wieder eine Überraschung: aus einer freien Improvisation heraus entsteht ein fröhliches Stück, das es vorher nicht gab und hier gerade erst erfunden wird. Respekt! Und zum Schluss in einer Art Aufbruchsstimmung People get ready von Curtis Mayfield, das 1965 Furore machte und hier einen schönen Abschluss bildet.

Das nächste Konzert im Literaturhaus findet in Kombination mit einer Lesung statt am 14. Juni 19 Uhr: Duo Aciano mit Marina Matthias „Drei Frauen und keine Akkordeon – Auf den Spuren von Astor Piazzolla"

links:

Literaturhaus Herne Ruhr e.V. befindet sich in der Bebelstraße 18, 44623 Herne

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