Immer wieder für Überraschungen gut
Vilnius Jazz Festival 2023
TEXT: Christoph Giese | FOTO: Vygintas Skaraitis & Greta Skaraitiene
Was für eine Magie! Was für eine musikalische Reise! Welche betörende Rhythmen und auch Melodien! Das Vilnius Jazz Festival ist immer wieder für Überraschungen gut - die aktuelle Ausgabe überbot sich noch mal selbst, um starke Eindrücke zu hinterlassen.
Welch Kreativität zwischen Avantgarde-Jazz und afrikanischen Trommel-Traditionen bringen Famoudou Don Moye und sein Odyssey & Legacy Quintet auf die Bühne des altehrwürdigen Alten Theaters von Vilnius. Und der Funke springt über auf das total begeisterte Publikum. Aber wie kann diese Mischung des legendären Schlagzeugers aus Rochester, New York, der unter anderem als Mitglied des Art Ensemble Of Chicago Jazzgeschichte mitschrieb, einen nicht packen beim Zuhören! Dieser Mix aus rituellem Trommeln, spirituellem Gesang, Jazzfragmenten und herrlich swingenden Momenten ist zu verführerisch, die Bandmitglieder wie der senegalesische Trommler und Sänger Dudu Kouaté oder der Franzose Simon Sieger, der Klavier ebenso grandios spielt wie Posaune und auch diverse Perkussionsinstrumente beherrscht - einfach ein Traum. Dass dieser zweite Festivalabend des 36. Vilnius Jazz auch noch mit einem Solo-Schlagzeugkonzert des Litauers Marijus Aleksa beginnt, dürfte Trommelfans restlos beglückt haben. Denn Aleksa, der vor seinem Auftritt den diesjährigen „Vilnius Jazz Annual Award“ überreicht bekam, nimmt die Zuhörer ebenfalls mit auf eine weite musikalische Reise, die auch Afrika streift. Und trommelt dabei sehr differenziert. Kein lautes Show Off, darüber viel Spielen mit den Mallets, raffinierte Rhythmusmuster, klug zusammengestellte Klangwelten.
Von marokkanischer Gnawa-Tradition inspiriert...
Spirituell geht es auch bei dem neuen Trio vom britischen Saxofonisten Shabaka Hutchings, dem marokkanischen Guembri- und Kalimba-Spieler und Sänger Majid Bekkas und US-Drummer Hamid Drake zu, basiert die Musik dieses Trios doch auf der Gnawa-Musik Marokkos. Vor allem dann, wenn Bekkas emotional singt zu seinen pointierten Guembri-Klängen. Aber auch Hutchings, der neben dem Tenorsaxofon zu einer ganzen Vielzahl unterschiedlicher (Bambus-)Flöten greift, zeigt sich in dieser Konstellation von einer sehr spirituellen Seite. Das Bindeglied in diesem spannenden Dreier zwischen Gnawa, Black Soul und Contemporary Jazz ist der auch optisch genau in der Mitte seiner beiden Kollegen platzierte Hamid Drake, der alles mit äußerst kreativen Rhythmusmustern begleitet, auffüllt, kommentiert, zusammenhält.
Hörenswertes gab es noch so einiges beim diesjährigen Vilnius Jazz zu erleben. Etwa das Solopiano-Konzert von Brian Marsella. Mit einer satten Stunde ist es vielleicht ein klein wenig zu lang geraten, denn nicht immer erzählt der US-Amerikaner Spannendes auf den schwarz-weißen Tasten. Aber oftmals eben doch, dann entpuppt er sich in Litauens wunderschöner Hauptstadt immer wieder als ideenreicher Kreativgeist. Der litauische Saxofonist Liudas Mockũnas zeigt im Duo mit dem schwedischen Holzbläser Mats Gustafsson und später erweitert als Quartett mit US-Bassist Tom Blancarte und dem dänischen Schlagwerker Christian Windfeld einmal mehr, welch kraftvoller, ausdrucksstarker und fantasievoller Improvisator er doch ist. Als Gast für ein Stück gesellt sich Mockũnas am letzten Festivalabend auch noch zum fabelhaften Quartett des portugiesischen Schlagzeugers Mário Costa, dessen Free Swing nicht nur mit interessanten rhythmischen und klanglichen Strukturen begeistert, sondern den Bandkollegen Benoȋt Delbecq (Piano & Synthesizer), Bruno Chevillon (Kontrabass) und Cuong Vu (Trompete) auch die Räume öffnet für Konversationen untereinander, für ihre ganz individuellen musikalischen Statements. Und der Nachwuchswettbewerb „Vilnius Jazz Young Power“ warf wie jedes Jahr ein interessantes Licht auf die junge litauische Jazzszene. Und die traut sich auch mal Ungewöhnliches. Der diesjährige Gewinner des Wettbewerbs, Tuba-Spieler Mikas Kurtinaitis, verband in seinem kurzen Soloauftritt gleich drei weitere im Konzertsaal an unterschiedlichen Stellen platzierte Tuben mit langen Schläuchen miteinander und konnte so alle Instrumente mit dem in seinem Arm ansteuern.
Ein untrügliches Gespür für wirkungsvolle Konzertabende
Zudem bewies Festivalorganisator Antanas Gustys auch in diesem Jahr einmal mehr sein untrügliches Gespür für die Zusammenstellung von einzelnen Konzertabenden. Das großartige Trio North der explosiven, energiegeladenen, körperlich spielenden dänischen Altsaxofonistin Mette Rasmussen, deren Impro-Jazz nach ein paar Minuten Anlaufzeit seine Faszination und volle Wucht entfaltete, direkt vor dem Louis Sclavis Quartet den Festivalsonntag bestreiten zu lassen, diese Idee funktionierte wunderbar. Ist doch auch der französische Klarinettist ein ausdrucksstarker Holzbläser, ein starker Improvisator, dessen immer wieder auch ein wenig folkloristisch gefärbte, ansonsten kühn-forsche Musik schon allein durch die Besetzung seiner Band mit einem Pianisten, dem fantastischen Benjamin Moussay, allerdings deutlich Song- und Melodie-orientierter ist.