Bild für Beitrag: Hunger nach Freiheit | Vadim Neselovskyi in Krefeld
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Hunger nach Freiheit

Vadim Neselovskyi in Krefeld

Krefeld, 23.03.2022
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Extrem sei zurzeit der Widerspruch zwischen den im Ukraine-Krieg erlebbaren „dunkelsten Seiten der Menschheit“ und andererseits den vielfältigen Demonstrationen, „wie gut Menschen zueinander sein können“. Der Pianist Vadim Neselovsky stellte seinem Solo-Recital im Krefelder Theater eine bewegende Ansprache voran. Noch mehr wirkte seine „Odessa-Suite“ wie eine tief persönliche musikalische Erzählung. Über sich selbst und seine Geburtsstadt an der südwestukrainischen Schwarzmeerküste. Über den Reichtum von Kultur an sich und über die Empfindungen der Menschen, die er dort kennt. Die dort gerade in Überlebensangst ausharren und zu denen er in regelmäßigem Kontakt steht...

Die Bilder im Kopf wirken

Neselovskyis Rede hatte für die passenden Bilder im Kopf gesorgt, dass die Musik auf Anhieb wirkte. Einige im Publikum hatten schon nach wenigen Minuten Tränen in den Augen, sobald sie von den vielschichtigen Impressionen und Improvisationen dieser Musik, die sich keiner Stilschublade unterordnen will, mitgerissen wurden. Herrlich verrückte Tanzfiguren suggerieren die Lebenslust der Menschen in dieser vibrierenden Kulturmetropole mit seinen vielseitigen Einflüssen, wo aber das bunte Lebens seit dem 24. Februar weitgehend erstarrt ist. In zarten melodischen Gebilden spürt Neselovskyis Spiel den zerbrechlichsten Empfindungen der Menschen nach. Es könnte ein Wiegenlied sein, um ein Kind in einen friedlichen Schlaf zu bringen. Kann jetzt überhaupt noch jemand friedlich schlafen in diesem Land? Brutal gebärdet sich das Spiel im Mittelteil der Suite. Was ursprünglich dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung von Odessa im zweiten Weltkrieg gewidmet war, ist nun mit neuer, fürchterlicher Aktualität aufgeladen: Jetzt lässt jeder donnernde Impuls auf dem Flügel die brutalen Bomben- und Raketeneinschläge erahnen.

Keine Wirklichkeitsflucht

Nein, zur Flucht aus der Wirklichkeit taugte dieser Konzertabend wohl kaum. Unerschöpflich entfaltete sich Neselovskyis künstlerisches Potenzial, das auf Klassik, Jazz und Elementen aus östlichen Volksmusiken, vor allem aus jüdischen Stilistiken baut. Letzteres hat er in den letzten Jahren durch seine Zusammenarbeit mit John Zorn weiter vertieft. Neselovskys größtes Kapitel ist seine permanent Grenzen sprengende Gewandtheit in der Improvisation. Und ja, diese Musik spendet Trost durch ihren kraftvollen Geist von Freiheit und ihren erfrischenden Weitblick. Raffiniert eingestreute Zitate aus Chopins Revolutionsetude wollen sagen, dass in jeder Epoche ein Hunger nach Freiheit besteht. Ein rockiger, mächtig auftrumpfender Part huldigt einem berühmten russischen Rockmusiker, den Neselovskyi als „Moskauer Jim Morrison“ bezeichnete und der in den letzten Jahren ein Sprachrohr für eine freiheitsliebende junge Generation in Russland geworden ist.

Bach als Freiheitsappell

Es dauerte einige stille Sekunden, bevor im Krefelder Glasfoyer der Applaus losbrach und es das Publikum von den Sitzen riss. Als Zugabe spielte Vadim Neselovskyi eine Bach-Sinfonia, denn Bach sei in diesen Tagen seine beste Therapie, wie er ausführt. Das fordernde Crescendo, mit der er den barocken Satz auflädt, appellierte schon wieder unmissverständlich an die der Freiheit. Nachdem über Nacht der Krieg über die Ukraine gekommen war, verstummte Vadim Neseloswkyis Klavier erst einmal. Die Mauer zu durchbrechen und wieder zu spielen, kam einem aufwühlenden Kraftakt gleich, der dann einen Produktivitätsschub ohne Beispiel freigesetzt hat. In sozialen Netzwerken suchte er nach Auftrittsmöglichkeiten für eine Benefiz-Konzert-Tournee – Auftritte nicht nur in Jazzlocations, sondern auch in der jüdischen Gemeinde Dortmunds und ein vormittägliches Schulkonzert sind daraus hervor gegangen. Ebenso eine Wiederbegegnung mit seinem langjährigen Partner, dem russischen Hornisten Arkady Shilkloper, der zum Gig in Göttingen aus Moskau anreiste. Auf der jazzahead in Bremen will Vadim Neselovsky seine Odessa-Suite gleich zweimal zur Aufführung bringen.

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