Höhenflug über der lauten Stille
Bericht vom Moers-Festival 2025
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Marion Kainz, Kristina Zalesskaya, Stefan Pieper
60 Meter über dem Moers-Festival in der Sponsor-Kran-Gondel: Spielzeughaft breitet sich funktionale Nüchternheit aus. Die schmucklose Festivalhalle, umgeben von anderen Gebäuden. Viele Buden, Menschengewimmel, Fahrzeuge, kleine Konzertbühnen. Weiter hinten, was viel romantischer wirkt, die Campingzelte im weitläufigen Park. Im Osten die Ruhrgebiets-Zechentürme, westlich nur noch grüne Landschaft bis zum Horizont. Der von unten heraufwehende elektrische Gitarrensound erinnert gerade an eine verwehte Jimi-Hendrix-Improvisation. So handzahm erlebt man Caspar Brötzmann selten, der auf einer anderen Kran-Bühne agierte. Tim Isfort hatte den ebenso radikal klingenden Sohn des amtlichen Festival-Pioniers Peter Brötzmann zu Recht gebeten, an diesem Ort etwas sanfter zu spielen. Es muss einen ja auch etwas auffangen von hier oben, aus dieser luftigen Höhe.Am Boden dann das übliche Gewusel, das durch das diesjährige Area-Konzept noch enger daherkam: Klänge scheppern durcheinander, Barrikaden durchschneiden den Raum. Es dauert immer eine Weile, bis aus Beobachtern echte Teilnehmende werden. Das ist die allgemeine Formel für Festivals – und für Moers im Besonderen!
Renaissance-Kunst zwischen Mensch und Maschine
Tag eins pulverisierte auf Anhieb sämtliche kulturellen Hierarchien - mit einer Premiere, die es in einem halben Jahrhundert Festivalgeschichte noch nicht gab: Das Projekt Multiple Voices führte Thomas Tallis' "Spem in Alium" (1570) fünf Stunden lang auf. Terry Wey (Countertenor) und Ulfried Staber (Bariton) singen live, während Soundengineer Markus Wallner die Stimmen durch den Raum schichtet. Aus zwei werden vierzig Stimmen, das Publikum – vom ergrauten Jazzveteranen bis zu hippen Zwanzigjährigen – wird Teil einer kollektiven Meditation. Den distinguierten Herren hinter den Notenpulten haftete fast so eine Heiligkeit an wie den Musikern von Kraftwerk. Diese uralte Musik wurde durch ihre unkonventionelle Behandlung zum Dialog zwischen Mensch und Maschine erhoben.
Die von Tim Isfort konsequent neu entwickelte Bühnenarchitektur in der Festivalhalle entwickelt um Musiker und Publikum eine Art organische Architektur, es gibt sogar Kissen, um sich liegend der Musik hinzugeben. Diese Überwindung von Konventionen trägt seit Jahren Früchte: Ein altersmäßig und soziokulturell ausgesprochen buntes Publikum bevölkert die Konzerte drinnen und draußen. Nein, früher im Park war nicht alles besser – zumindest herrschte damals noch eine starke Apartheid zwischen den zahlenden Musikspezialisten im eingezäunten Festivalzelt und den zahllosen jungen Leuten, denen freies Feiern ein ernsthaftes Anliegen ist. Hier ist alles vereint, sogar wenn Jazz im eigentlichen Sinne dargeboten wird.
Eine ganz neue, frische Quelle tat sich mit der aktuellen China-Kooperation des Festivals auf - als lebendige, leidenschaftliche Antithese zu allen medialen Stereotypen, die dem unheimlich mächtigen Reich der Mitte anhaften. Der Saxofonist Li Daiguo (bBb bBb) verdichtete sein Konzert zu einer Intensität, der selbst ein Coltrane wohl kaum noch etwas hinzuzufügen gehabt hätte. Mamer aus der uigurischen Bevölkerung demonstrierte, dass auch in dieser globalen Region der musikalische Underground brennt – auf fünfsaitiger Bassgitarre plus Elektronik sprengte ein mächtiger Stream of Consciousness alle Kategoriebegriffe, ob sie nun Noise, Doom oder Drone oder was auch immer heißen.
Im Regen schweißgebadet sein
Die neue Baumschatten-Bühne direkt bei der Zeltwiese entwickelt ein subversives Festival-Flair, das an so manches Bauernhof-Festival aus der Jugend erinnerte, wo einst der Absturz zelebriert wurde. Ein würdiger Ort, um auch mit einer satten Dröhnung Oldschool-Freejazz lustvoll die Gegenwart mit allen Gründungsmythen des Moers-Festivals wieder kurz zu schließen.Und was dabei herauskommt, wenn sich hungrige Gegenwarts-Artists aus China mit der hiesigen Musikszene kollaborieren, das verdichtete sich bei der Band "Das Ende der Liebe" zusammen mit der chinesischen Performerin su dance110 zu einem hypnotischen und psychedelischen Sounddschungel, dessen treibende Beats in kollektive Hypnose versetzten. Trotz kühler Temperaturen und immer wieder Regen hinterher schweißgebadet sein. So muss das!
Das gewählte Motto "Stille" blieb oft unverstanden – schließlich war es überall ziemlich laut in Moers, man muss hier kritisch bemerken, dass die musikalische Einlösung des Programmkonzepts durchaus eine Spur zu überreizt geraten war. Als intellektueller Leitfaden begleiten zahllose Literaturzitate die Konzerte. Welche Stille ist gemeint? Vielleicht die Abwesenheit akustischer Alltagszumutungen, denen sich die Konsumenten-Masse bereitwillig unterordnet. Der Zwangsbeschallung zu entfliehen hat durchaus mit Stille zu tun, auch wenn man sich zum Beispiel per Kopfhörer vor manipulativer Berieselung im Supermarkt oder anderswo abschottet.
Die Uraufführung "Sei still!" (DE/ISR/CA) von Maya Dunietz und William Northlich-Redmond gipfelte symbolträchtig in einem stummen Schrei – wie im Bild von Edvard Munch, wie in der Ohnmacht einer zu lauten Welt. Stille als intensivste Form der Präsenz. Koshiro Hinos "Chronograffiti" schöpfte wohl am puristischsten aus der Stille und auch das schloss fette Lautstärke-Levels keineswegs aus. Drei Perkussionisten demonstrieren das dynamische Spektrum ihrer Instrumente in Steve-Reich-artigen Crescendo-Patterns. Als Hino auf die Riesen-Taiko draufzimmerte, freute sich das Publikum auf den Liegekissen über die Zwerchfell-Massage. Mette Rasmussen elektrisierte ihr Publikum als wichtigste Stimme der europäischen Impro-Szene. Die Dänin repräsentiert eine Generation, die das Free-Jazz-Erbe nicht konserviert, sondern aus dem Sound von heute heraus weiterentwickelt. Sie verkörpert die "Chronograffiti"-Ästhetik perfekt: Zeit besprühen, markieren, transformieren. Durch die rohen, ungezügelten Klangwelten ihrer akustisch-elektronischen Band, wie sie jetzt gebraucht werden.
Auch das Kerngeschäft des Jazz darf sich neu erfinden
Hayden Chisholm, Festival-Inventar seit Jahren, rechtfertigt mit Kinetic Chain den Jazz-Anspruch des Festivals. Mit Burgwinkel, Eldh und Kaufmann entstand ein entrücktes Nocturno – die improvisatorische Haltung wird zum Lebensprinzip. Auch die Pianistin Angelica Sanchez machte aus Hörenden echte Teilnehmende. Jazz-Idiome stoßen in freie Klangflächen vor, hypnotischer Fluss vereint die Menschen intuitiv. Da gab es definitiv keinen Grund mehr, auf dem heimischen Sofa sitzen zu bleiben und sich einzubilden, dass nach dem „unerreichten" Köln-Concert nichts mehr nachgekommen sei. Am Vormittag danach spielte Angelica Sanchez hoch oben auf einer Hubbühne über dem Festivalgelände – nun elektronischer, atmosphärischer. Solche Klänge hätte es hier draußen mehr gebraucht, um das Laufpublikum für die große Sache dieses Festivals zu verführen.
Wadada Leo Smith und Vijay Iyer lieferten den definitiven Höhepunkt des diesjährigen Moers-Festivals, wenn es um Weltklasse-Exzellenz im zeitgenössischen Jazz geht. Aus tiefsten Basstönen vom Klavier wird der Raum weit gemacht, dann klingen Trompetentöne wie schwere Seufzer. Das Piano funkelt zunächst nur leise auf. Der Pianist schafft atmosphärischen Raum auch auf dem Synthesizer, während Smiths Erzählfluss nie abreißt. Erst später antwortete Vijay Iyer in messerscharfer Kalibrierung auf die endlos weiten, im Innersten ergreifenden Narrative dieses genialen Trompeters, der 1979 zum ersten Mal in Moers spielte.
Mittendrin steht ein Mahnmal: Stelen mit erschreckend vielen Namen abgewickelter Festivals als direkter Verweis auf die kulturpolitische Realität. Das Bundesjazzorchester spielte Stücke, die in den 1930er-Jahren eine heile Welt vorgaukeln sollten, dazu wurden Texte aus NS-Entschädigungsakten rezitiert, die eine Sprache sprachen, die allem voran über die Schicksale von Kulturschaffenden berichtete. Die Mahnung ist klar: Wehret repressiven Zeiten, die zuallererst die Kultur töten. Moers steht noch stabil da als wärmendes Kraftwerk für menschliche Emotionen. Noch. Das dynamische Ticketing hat in diesem Jahr noch mehr und durchmischteres Publikum hervorgebracht. Der Spendenhut geht trotzdem auch hier schon rum.
Ein großes Finale, aber kein Ende
Im Idealfall ist das letzte Konzert eben nicht nur ein Soundtrack zum Abbauen und Tschüss-Sagen, sondern bündelt nochmal alle Energie zwischen den Menschen. Und ja: Diese Ausgabe darf sich historisch in die Top-Five der intensivsten Festival-Abschlüsse einreihen. Die „Bühne", die in der Halle von Moers eben nichts Trennendes verkörpert, gehörte noch einmal Caspar Brötzmann - diesmal mit seinem Massaker-Trio, das zusammen mit Eduardo Delgado Lopez und unter neuer Beteiligung der Fehlfarben-Schlagzeugerin Saskia von Klitzing in runderneuerter, extrem ausgeschlafener Weise den Moment zum Brennen brachte, meist betont prog-metal-lastig. Roh, intensiv, grell leuchtend! War es das etwa jetzt schon? Nein, jetzt geht es erst richtig los...