Heimat neu erleben
37. Südtirol-Jazzfestival
TEXT: Bernd Zimmermann | FOTO: Tim Dickeson
Die Geister die sie riefen, stellen sie nun vor neue Herausforderungen. Immer mehr Gemeinden und besondere Orte wollen Teil des Festivals werden. Und da stellt sich nicht selten die Frage, welche davon sollen berücksichtigt werden und welches Konzert passt nicht nur zum Ort, sondern auch zu dessen Besitzer?
Der Landeshauptmann Südtirols, Arno Kompatscher, schwärmt in seinem Grußwort: "Dank des Südtirol Jazzfestivals konnten viele Südtirolerinnen und Südtiroler in den vergangenen Jahren zahlreiche interessante und besondere Orte in Südtirol entdecken und kennenlernen. So wird jedes der über 50 Konzerte nicht nur zu einer Reise in eine andere Kultur, sondern zugleich zur Auseinandersetzung mit der eigenen Heimat." Und die Landesräte für Kultur ergänzen: "Bei der Auswahl der Aufführungsorte haben die Veranstalter erneut überrascht und zeigen einmal mehr, dass Musik auch jenseits klassischer Konzertsäle Emotionen eindrucksvoll entfalten kann." Wenn man einmal dieses Festival erlebt hat, möchte man eigentlich zustimmend widersprechen und behaupten, dass gerade an solchen Orte und nicht in klassischen Konzertsälen solche Emotionen entstehen.
Noch nie war in den letzten Jahren das Südtirol-Jazzfestival musikalissch so bunt wie heuer. Mainstream-Jazz, Avantgarde, bis hin zu Pop-Jazz und Psychodelic-Rock.
Star der ersten Hälfte des Festivals und Artist in Residence war in diesem Jahr Marco Mezquida, der hierzulande mit seinem Projekt Chicuello – Mezquida bekannt ist. Mezquida kann aber auch solo – und wie – Mainstream mit der katalanischen Sängerin Celeste Alias und – Achtung! - besonderer Tipp – Klassik-Jazz mit seiner Formation Ravel’s Dreams mit einem herausragenden Martin Meléndez am Cello und Aleix Mobian an den Percussions. Alle Projekte melodiös und technisch brilliant.
Es wäre aber nicht das Südtirol-Jazzfestival, wenn nicht zwischendrin für das anspruchsvollere Ohr was ganz Neues und Unerwartetes präsentiert würde. So zum Beispiel elektrisierten ElectrostaticDischarges, kurz ESD, aus Spanien und Frankreich das mehr oder weniger zufällig anwesende Publikum auf dem Waltherplatz mit ihrem Psychodelic-Rock oder die schon beim Jazzfestival Münster sehr positiv aufgefallene portugisische Formation AXES, die im Brixener Wasserkraftwerk (!) kraftstrotzende und innovative Songs und zwei Drummern das Publikum begeisterte.
Sehr rockig ging es auch am ersten Sonntagabend im "Batzen", dem ältesten Gasthof Südtirols und "Headquarter" des Festivals, zu. So sehr, dass nach kürzester Zeit die Carabinieri dem höllisch lauten Treiben ein wenig Einhalt gebieten mussten. Eine nicht unübliche Ritual an diesem Platz und bei diesem Festival, dass gerne hin und wieder provozieren will.
Reizvoll, wie immer, das Konzert auf der Feltuner Hütte. Hier spielten in diesem Jahr das Duo Claire Parsons (Lux) und Eran Har Even (NL, Isr) auf. Das kammermusikalische Spiel der beiden schien mit Ort und Landschaft regelrecht zu verschmelzen.
Immer was los ist auch für Nachtschwärmer im Batzenhäusl. Unten im Keller des Sudhauses gibt es jede Nacht ab Mitternacht spannende Konzerte.
Auch das Palais Toggenburg, eines der herrschaftlichen Häuser Bozens mit einem ausgedehnten Park hat sich in den letzten drei Jahren im Rahmen des Festivals zu einer interessanten Adresse entwickelt. In diesem Jahr war es die Kulisse für die italienisch-französiche Band Matteo Bortone 'Travellers'+1 (Musikbeispiel), die über elektronischen Klangteppichen eine interessante Textur aus Melodien und freier Improvisation legten.
Schon bei dem Konzert des österreichisch-italienischen Gemeinschaftsprojekts "Little Rosies Kindergarten feat. Euregio Jazzwerkstatt" im bezaubernd gelegenen Ansitz Velseck - eines dieser neuen, grandiosen Spielorte bei Tiers am Rosengarten - viel vor allem die österreichische Schlagzeugerin Judith Schwarz auf. Sie überzeugte mit ihrer Partnerin Lisa Hofmaninger (sax, bcl) dann auch beim Jazz&Innovation-Day im NOI Techpark. Da, wo Innovationen und Start-Up-Unternehmen an neuen Produkten und Geschäftsmodellen werkeln, improvisierten die beiden noch so jungen Musikerinen vor den neugierigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des NOI und den Festivalgästen.
Und dann kam Hank Roberts, einer der bedeutensten Cellisten des internationalen Jazz in Bozen an. Zuerst verzauberte er mit einem Solokonzert im Naturkundemuseum das Publikum um Tags darauf mit der Formation Pipe Dream (u.a. mit Filippo Vignato (tb) im Centro Culurale Trevi Kulturzentrum mit einem Amalgam aus US-amerikanischem Folk-Rock, freier Improvisation und Pop bei einem zweieinhalbstündigen Konzert das Publikum zu begeistern.
Zum Ende des Festivals gab es noch den obligatorischen Jazzabend im Parkhotel Laurin, wo die Musiker auf einer, extra über den Pool gebauten Bühne konzertieren. 5K HD hieß die Band, hinter der sich die österreichische Band Kompost3, verstärkt durch die Sängerin Mira Lu Kovacs verbirgt. Jazz-Pop auf allerallerhöchstem Niveau, bei dem man sich wünscht sowas des öfteren in unseren öffentlich-rechtlichen Medien zu hören.
Voll besetzte Konzerte, attraktive Spielorte, hervorragende Musik und ein weiterer Publikumsrekord. Viel Neues und Ungehörtes, Widerborstiges, Entspannendes, Schräges, Aufregendes und Unjazziges war auch in diesem Jahr wieder beim Jazzfestival Südtirol zu erleben. Attribute, mit denen man ein Festival im Mega-Mainstream-Zeitalter belegen können muss. Und wer es immer noch nicht realisiert hat. Ein Besuch lohnt sich - immer!