Große Bands, wilde Sounds
Vilnius Jazz 2021
TEXT: Christoph Giese | FOTO: Vygintas Skaraitis
Litauens Kulturszene ist jung, dynamisch, vielfältig - auch das große Vilnius Jazzfestival ging nach der Lockdown-Zeit in diesem Jahr wieder mit einem Mega-Programm in die Vollen...
Die Portugiesen haben keine Mühen gescheut um dabei sein zu können, beim Festival Vilnius Jazz. Bis nach Warschau sind sie von Lissabon geflogen um dann weiter mit dem Bus in die litauische Hauptstadt zu reisen. Das dauert etliche Stunden. Aber bei einer 18-köpfigen Reisegruppe muss man schon mal schauen was finanziell möglich ist, um solch einen Trip zu realisieren. Das „Lisbon Underground Music Ensemble“, kurz „L.U.M.E.“, jedenfalls hat den Reisestress auf sich genommen. Und er hat sich für alle Beteiligten gelohnt. Für die Musiker der Bigband, die das erste Mal in Litauen waren. Und für die Zuhörer, die einen herrlich schrägen, mit ironisierendem Humor gewürzten, improvisatorisch-kompositorischen Musiktrip durch die Jazzgeschichte des 20. Jahrhunderts zu hören bekamen.
Ganz groß geschrieben wird die Improvisation bei der aus der russisch/sibirischen Republik Tuwa stammenden Sainkho Namtchylak und der Japanerin Kazuhisa Uchihashi. Die Sängerin und Vokalkünstlerin und der Gitarrist, Daxophon-Spieler und Soundtüftler entführten im Duo auf der Bühne des altehrwürdigen Russischen Dramatheaters in Vilnius das gebannte Publikum in immer wieder überraschende Klangwelten. Dass sich darin dann plötzlich auch bluesige Passagen herausschälen und wie dieses kongeniale Duo mit Klängen zu spielen weiß – man muss sich darauf einlassen, entdeckt dann aber die Faszination und Schönheit ihres Tuns.
Drei Abende lang bot das Festival an einem zweiten, hippen Spielort am späten Abend, immer nach den Hauptkonzerten im Theater, jungen litauischen Bands die Möglichkeit sich vor erfreulich viel und jungem Publikum zu präsentieren. Mit Kornelijus Pukinskis stellte sich da zum Beispiel ein hitziger, wilder Saxofonist vor. Oder mit „BoB“ ein ideenreiches Quartett, das auch mittels Elektronik und Sounds ihr Set langsam aufbaute, um dann den Zuhörer soghaft in die immer lauter und dynamischer werdende Klangwelt hineinzuziehen. Auch im Theater durften sich am letzten Festivaltag junge litauische Bands einer Jury aus Experten und Publikum, letzteres durfte ebenfalls abstimmen, vorstellen – beim Wettbewerb „Vilnius Jazz Young Power“.
Festivaldirektor Antanas Gustys hatte in diesem Jahr die gute Idee Dalius Naujokaitis einen ganzen Abend im Russischen Dramatheater zur Verfügung zu stellen. Der litauische Schlagzeuger lebt schon seit einem Vierteljahrhundert in New York und ist dort bestens vernetzt in der Avantgarde- und Freejazz-Szene. In Europa ist er mit wenigen Ausnahmen, und natürlich Auftritten in seiner Heimat Litauen, eher wenig zu sehen. So war der Abend mit ihm für den nrwjazz.net-Abgesandten eine echte Entdeckung – und ein wahres Erlebnis. Schon mit dem Quartett „Suo Suo“, mit E-Gitarristin Ava Mendoza, E-Bassist Simon Jermyn und dem Saxofonisten Jonathon Haffner, begeisterte Naujokaitis mit seinem teils explosivem, und vor allem immer sehr ideenreichen Schlagzeugspiel in rockig-freien, vertrackten Klangbildern. Doch das war nur das Vorspiel zu einem gigantischen Spektakel. Das wiederum begann in ebenfalls noch kleinerer Formation als Hommage an den verstorbenen litauisch-amerikanischen Filmregisseur und Autor Jonas Mekas. Mit exaltiertem italienischen Rezitator und Chorstimmen, summenden und flötenähnlichen Sounds aus dem Dunkel der Theaterbalkone. Doch irgendwann standen sie dann alle auf der Bühne. Der vielköpfige Chor, jede Menge Bläser, ein halbes Dutzend Schlagwerker und weitere Musiker, über 50 insgesamt. Immer dirigiert von Dalius Naujokaitis oder Jonathon Haffner. Man kann die Musik gar nicht so genau in Worte fassen, das musste man einfach gesehen haben. Wie sich Improvisation und streng durchkomponierte Passagen, nie eingeengt in stilistische Grenzen, in so einem riesigen Klangkörper miteinander so gut verbanden, das war großartig anzuschauen und anzuhören. Selbst die von einer Chorsängerin Stück für Stück immer lautstärker ausgerufene Verfassung der Freien Republik Užupis, einem Szeneviertel am Rand der Altstadt von Vilnius, war am Ende in diesen memorablen Auftritt integriert.
Große Formationen waren in diesem Jahr an jedem der vier Festivaltage zu hören. So etwa auch die „Large Unit“ des norwegischen Schlagzeugers Paal Nilssen-Love, die ekstatische Momente mit ausgeklügelten Strukturen kombinierte, bei denen jeweils nur Teile der bei Instrumenten wie Bass oder Schlagwerk gleich mal zumindest doppelt besetzten Formation musizierten. Wilde Freiheiten innerhalb komponierter Eckpfeiler boten ein interessantes Hörvergnügen. Aber auch direkt sozusagen vor der Haustür findet sich so eine spannende Großformation. Das litauische „Improdimensija Orchestra“, entstanden durch die Initiative zweier Meister der improvisierten Musik Litauens, Liudas Mockūnas und Arnas Mikalkėnas, zeigte die ganze Bandbreite der improvisierten Musik. Ein würdiger Schlussakkord unter die 34. Ausgabe des ältesten jährlichen Jazzfestivals in Vilnius.