Frische Klänge für ein Neues Jahrzehnt
shortcuts beim Internationalen Jazzfestival Münster
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Das „kleine“ Jazzfestival in Münster ist ja nicht weniger international als die große Festivalausgabe - um deswegen schien wohl die Titelgebung „Jazz in between“ nicht mehr international genug. Also soll der neue Name „Internationales Jazzfestival Münster – shortcuts“ wohl für ein neues adäquates „Branding“ sorgen. Ob es solche Marketing-Gimmicks in Münster überhaupt braucht? Ist hier doch das Vertrauen in die künstlerische Qualität eines Jazzfestivals unerschütterlich und das Festival seit Jahrzehnten eine Marke mit Gewicht in Münsters Stadtgesellschaft. In kreativer Ausgewogenheit programmierte Fritz Schmücker nun die aktuelle Ausgabe zum Jahrzehnt-Auftakt.
Dass im Jazz eben ständig alles neu und anders ist und sich dies idealerweise im unmittlbaren Moment verdichtet, dafür rüttelte gleich zu Beginn die Formation „Koma Saxo“ in bestem Sinne wach. Christian Lillinger gehört zur aktuellen Band des schwedischen Avantgarde-Kontrabassisten Peter Eldh. Solche ausgeprägten Charaktere lassen schon genug Potenziale miteinander reagieren, um Jazz in jeder Sekunde neu zu erfinden. Jetzt kommt eine neue Ebene hinzu: Otis Sandsjö, Jonas Kullhammar und Mikko Innanen, drei Saxononisten aus dem hohen Norden wachsen im Münsteraner Theater über sich hinaus als Konfrontationspartner und Ideengeber - und nicht selten auch als hinreißende Melodiker.
Vor allem: Wie die fünf in hochkomplexer und gegenseitiger Durchdringung ans Eingemachte gehen, versprüht dies gleich zu Beginn der 2020er Jahre eine aufrührerische Frische. Man denke vielleicht an die anderen „20er Jahre“. Die 1920er Jahre waren, vor allem kulturell, von Freigeist, Kreativität und Lebenslust gezeichnet. Die frischen, schroffen Klänge von „Koma Saxo“ inspirieren, über solche Zusammenhänge nachzudenken und mutet hier wie ein guter Appell für die Zukunft an. Das Publikum im Münsteraner Theater zeigt sich tapfer begeisterungsfähig für so viel „Grundlagenforschung“. Eine Belohnung dafür gibt es im zweiten Programmteil: Die Französin Arielle Besson gehört zu den nicht wenigen starken weiblichen Stimmen auf der Trompete. Hier trifft sie auf den Akkordeonspieler Lionel Suarez. Das öffnet Tür und Tor für imaginäre Folklore, für Anleihen bei Tango und Musette, lässt herrlich geschmeidige Unisono-Linien zwischen Trompete und Akkordeon entstehen. Faszinierend, wie plastisch Lionel Suarez Melodie und Basssttimme differenziert. Oft so, als würden zwei verschiedene Instrumente auf der Bühne stehen. Ganz groß ist, wie Arielle Besson ihr Horn zu einer berührenden Singstimme werden lässt. Man hätte sich auf dieser beseelten Grundlage durchaus manchen freigeistig improvisierten Exkurs gewünscht. Aber auch so wie es ist, strahlt aus dieser Kommunikation etwas Nahes, Menschliches, Inniges.
Die Zeit läuft im Sauseschritt. Es war immerhin bereits 1991, als der amerikanische Cellist Hank Roberts zum ersten Mal auf dem Jazzfestival Münster spielte. Im Theater gerät das Wiederhören mit dem sensiblen Charismatiker zum kaleidoskopartigen Hörkino. Seine aktuelle, italienisch-amerikanische Band namens „Pipe Dream“ tut ihr übriges für eine Sternstunde gelebter Spiellust und sprühender Musikalität. Viele der langen, multistilischen Stücken wirken wie ein Plädoyer für so manche Tugend, die heute zu Unrecht als unzeitgemäß dient – gemeint ist das ausgiebige Improvisieren über Ostinati, welche jedem Höhenflug der jeweiligen Solisten eine hypnotische Stringenz verleihen. Großartig agiert dabei der Posaunist Filippo Vignato. Sensibel interveniert Pianist und Rhodes-Spieler Giorgio Pazoric und als fantastische Rhythmiker wachsen Schlagzeuger Zeno de Rossi und vor allem der überragende Vibrafon-Artist Pascale Mirra über sich hinaus. Und Hank Roberts selbst? Selten erlebt man einen so betont leise und fragil agierenden Musiker dennoch so stark präsent in einem großen Theater und vor einer so reichhaltig besetzten Band. Meist streicht er sein Cello in ganz klassischer oder auch etwas neutönerischer Manier und spielt sich weltentrückt in höhere Sphären hinein. Eine ebenso fragile Poesie erzeugt sein Gesang, der ausgesuchten Momenten vorbehalten bleibt. Jazzrock, Folk, Zwölftonmusik, Romantik – wie immer man es nennen mag, diese Reise durch eine Wunderwelt musikalischer Überraschungen hätte noch endlos währen können!