Freigeist auf Spitzen-Niveau
Vilnius Jazz 2022
TEXT: Christoph Giese | FOTO: Vygintas Skaraitis & Greta Skaraitiene
Kalt ist es im Alten Theater Vilnius, das bei der letzten Ausgabe von Vilnius Jazz noch Russisches Drama Theater hieß. Aber da hatte Putin auch noch nicht die Ukraine überfallen. Die Jacke oder den Mantel lässt man an den vier Festivalabenden besser an. Aber die Kälte liegt nicht an fehlendem Gas in Litauens Hauptstadt, sondern daran dass die zentralen Heizungen im Herbst in der ganzen Stadt aufgrund der Temperaturen noch nicht angestellt wurden. Aber zum Glück hat Antanas Gustys für die Jubiläumsausgabe des ältesten Jazzfestivals der litauischen Hauptstadt, das in diesem Jahr seinen 35. Geburtstag feiert, viel erwärmende Kunst im Angebot.
Gleich das erste Konzert am ersten Abend ist ein Knaller. Die Musik des Trios des britischen Pianisten Alexander Hawkins ist zugleich zugänglich wie abenteuerlich, pendelt zwischen komponierten Strukturen und hoch spannenden improvisatorischen Ausarbeitungen der Freiräume darin. Dabei entpuppt sich Stephen Davis als grandioser Rhythmengeber, der sehr kreativ mit den offenen Räumen arbeitet, während Kontrabassist Neil Charles das perfekte Verbindungsglied zwischen Klavier und Schlagwerk ist. Klangsuche und rauschhaft Fließendes, angereichert mit gesampelten Sounds – dieses Trio aus Großbritannien ist in jedem Moment so erfrischend, weil so voller Überraschungen.
Klangsucher sind auch Saxofonist und Pianist Petras Vyšniauskas und Drummer Arkady Gotesman, zwei absolute Legenden des litauischen Jazz, die schon im Jahr 1990 als Duo PetrArka debütierten. Und jetzt im Theatersaal mit fein gesponnenen Dialogen so spannend unterhalten. Was Gotesman auf unterschiedlichsten Trommeln zu Gehör bringt, kommentiert Vyšniauskas immer kreativ, sehr oft übrigens auf dem Klavier, auch wenn die Saxofone ja eigentlich seine Hauptinstrumente sind. Spirituell wird es dagegen beim Tributkonzert für Alice Coltrane mit Hamid Drake´s Turiya. Der legendäre US-Drummer kommt mit einem Septett nach Vilnius, mit illustren Beteiligten wie dem US-Tastenmann Jamie Saft, dem norwegischen Sample-Spezialisten Jan Bang oder der portugiesischen Trompeterin Susana Santos Silva. Und mit einer sensiblen und imaginären Transformation einer unsterblichen Künstlerin wie es Alice Coltrane immer sein wird.
Im improvisierten Jazz gibt es viel zu erzählen
Nach den abendlichen Konzerten in dem wunderschönen Alten Theater Vilnius lockt eine Night Stage die ersten drei Festivalnächte vor allem viele junge Leute zu dem hippen Opera Social House, direkt gegenüber der imposanten Oper von Vilnius gelegen. Hier zeigen vor allem junge und zumeist litauische Musiker, was sie so drauf haben und dass sie im improvisierten Jazz eine Menge zu erzählen haben. Man war gespannt auf die Band Vėjeliai von Dalius Naujokaitis, keiner der ganz Jungen mehr. Aber einer der spannendsten litauischen Jazzer, der im vergangenen Jahr noch auf der großen Festivalbühne mit einem gigantischen Spektakel mit über 50 beteiligten Musikern für Staunen sorgte. Doch der Drummer erkrankte kurzfristig, aber seine sechsköpfige, mit jungen Litauern besetzte Band hatte mit Ignas Kasikauskas an den Drums einen großartigen Ersatz und riss mit ihrem Free-Funk-Jazz das Publikum mit. Auch der im großen Theatersaal an einem Nachmittag stattfindende Wettbewerb Vilnius Jazz Young Power, den Antanas Gustys schon seit siebzehn Jahren in sein Festival integriert hat, zeigt mit Bands wie der litauisch-dänischen Formation SNUS oder den späteren Wettbewerbs-Gewinnern, dem Trio Quark Effect, dass die junge litauische Jazzszene Mutiges und Innovatives zu bieten hat.
Für die berührendsten Momente sorgt in Vilnius aber ein anderer, der Pianist Vadim Neselovskyi. Der Ukrainer, geboren in Odessa, ein paar Jahre in Dortmund lebend und in Essen und Detmold studierend, wohnt inzwischen in Boston, wo er am Berklee College of Music Professor ist. Mit vielen Jazzlegenden hat der Mittvierziger gespielt und zusammengearbeitet, aber in Vilnius zeigt wie magisch er solo am Klavier ist. Neselovskyi stellte seine mehrteilige Suite Odesa vor, deren Titel bewusst nur mit einem „s“ geschrieben ist. Es ist die ukrainische Schreibweise der Stadt. Komponiert schon vor Kriegsausbruch, hat Odesa eine erschreckende Aktualität bekommen und nimmt den Zuhörer gefangen auf einer musikalischen Reise durch die Heimatstadt des Pianisten. Perkussive Feuerwerke, osteuropäisch gefärbte, melodische Motive, viele plötzliche Brüche, etwa von aufwühlendem Tastenspiel in urplötzlich übernehmende, fast stille Melancholie – Vadim Neselovskyi lässt den Zuhörer Odessa spüren. Mal sind es Töne wie Schneeflocken, wenn er auf den Tasten vom Winter in der Stadt erzählt. Dann treibt ein Beat ordentlich voran und man ist im Bahnhof von Odessa angelangt. Wie sehr ihn die aktuelle Situation in seiner Heimat schmerzt und bewegt, der Ukrainer vermittelt diese Gefühle atmosphärisch wunderbar eingefangen auf dem Konzertflügel. Bewegend, einzigartig, ganz große Kunst!