Bild für Beitrag: Flussabwärts | Dirk Raulf Orchestra feat. Meret Becker und Deep Schrott
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Flussabwärts

Dirk Raulf Orchestra feat. Meret Becker und Deep Schrott

Essen, 15.05.2014
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker

Dirk Raulf – Mitglied unterschiedlicher Besetzungen wie „Deep Schrott“ oder von „Krank“ und rühriger Komponist und (Theater-)Musiker, Autor, Songwriter, Regisseur, Kurator – hat es mit dem Wasser: Geboren und aufgewachsen in der Lippe-Stadt Lippstadt, seit über dreißig Jahren in Köln am Rhein lebend, begeisterter Schwimmer und Angler, ist vom Thema ‚Wasser‘ fasziniert. Im Interview erläutert er die Gründe: Sie liegen nicht nur im biographischen Bereich, Wasserpolitik, die Klimaveränderungen, die individuellen und globalen Lebensgrundlagen hängen existentiell mit Wasser zusammen. Außerdem sei Wasser ein äußerst spannendes Thema für künstlerisch-musikalische Annäherungen, sind doch mit Wasser vielfältige Assoziationen, Stimmungen, Bilder verknüpft. Er verweist dabei auf den einschlägigen Theaterabend ‚Undine‘ am Staatstheater Kassel, die seit 2003 andauernde Arbeit an der Lichtpromenade Lippstadt, die Musik für die geplante DVD "Last Ship Home" oder auch seine aktuelle Solo-CD "Writ in Water". Als Auftragsarbeit der Marienthaler Festspiele entstand 2013 von ihm eine neue Komposition mit größerer Besetzung: 60 Minuten. Flussabwärts. Diese wurde im August letzten Jahres uraufgeführt und gastierte jetzt vom 6. – 11. Mai in NRW, u.a. in der Essener Zeche Carl.

Bevor auf die Komposition von Dirk Raulf eingegangen wird, sei darauf hingewiesen: Es handelte sich um ein Doppelkonzert. Eröffnet wurde es durch Deep Schrott, dem „einzigen Bass-Saxophon-Quartett des Universums“. Dirk Raulf, Wollie Kaiser, Andreas Kaling und Jan Klare spielen das Material ihrer letzten CD „The Dark Side Of Deep Schrott Vol. 1“ (CD-Rezension am 11.1.2014 bei nrwjazz). Wie schon auf der CD zeigt das Quartett erst recht live mit Titeln wie Oh well, Smells Like Teen Spirit, Black Sabbath, Iron Man, Paranoid und in ihren Eigenkompositionen: Sie sind wirklich ein Ausnahme-Quartett, das mit ihren Ausnahme-Instrumenten eine raffiniert arrangierte Musik macht. Im Quartett werden die Melodie-, Akkord- und Rhythmusspuren in unterschiedlicher Aufgabenteilung von den Vieren kunstvoll und bei aller Monströsität der Instrumente differenziert aufeinander bezogen und abgestimmt. Die Sax-Jumbos geben den rhythmischen Drive von rockorientierter Metal-Musik in den Arrangements sehr gut wieder, verblüfft stellt man fest, wie vier monophone Instrumente und dann noch tiefklingende eine dermaßen spannende konzertante und auch virtuose Klangvielfalt erzeugen können.

Der zweite Teil des Konzertabends ist dann auf den ersten Blick ebenfalls dem eher Extravaganten zuzuordnen. Bei der multimedialen Komposition von Dirk Raulf handelt es sich um ein exakt 60-minütiges Stück. Der Takt wird in 3.600 Sekunden, mit 60 Schlägen pro Minute, vorgegeben. Die zwölf 5-minütigen Einheiten beginnen mit der Tonart ‚a‘ und führen in Halbtonschritten bis zum ‚h‘. Auf diese zeitlichen Einheiten mit dem chromatisch wechselnden Grundton verteilt der Komponist eine Abfolge von musikalischen Motiven, von Text- und Musikzitaten wie z.B. von Brian Eno (By This River), von Franz Schubert/J.W.v.Goethe (Meeresstille), Randy Newman (In Germany Before The War), Nick Cave (Little Water Song) und einer von Meret Becker anrührend vorgetragenen Version von Tom Waits‘ All The World Is Green.

Dirk Raulf fasst seine Konzeption des Konzertes mit Hilfe einer zirkelhaften Grafik zusammen und kommentiert diese selbstironisch: „Sieht ein wenig so aus, als könne der selige Stockhausen sich davon ein Scheibchen abschneiden“. Wem das zu abstrakt und geradezu mathematisch konstruiert und kopflastig vorkommt, sei beruhigend gesagt: Dirk Raulf und seinem Orchester gelingt eine überaus interessante und spannende Komposition, die das vielleicht starr anmutende formale Korsett in ein überaus „fließendes“, ineinander raffiniert und ansprechend verwobenes Musikstück überführt. Die Songs und Songzitate und ihre musikalische Grundierung erzeugen „stromabwärts“ wassermotivische Bilder von Strömung, Gegenströmung, Ineinanderfließen, abrupt aufkommenden Klippen, von Gleiten, Schwimmen, Treiben, Umspülen, Strudeln. Verdichtet werden die musikalisch erzeugten Bilder durch das von Frank Schulte eigens produzierte Video-Triptychon mit Bildern von Rhein, Lippe und Issel.

Die ausgesprochen vielseitige Berliner Sängerin und Bühnen-, Film- und Fernseh-Schauspielerin Meret Becker singt, rezitiert, bedient ein Glockenspiel und erzeugt elektronische Töne, v.a. spielt sie hinreißend auf einer singenden Säge, womit sie zu einer lyrisch-sphärischen Klangfarbe im Orchester beiträgt. Ein wenig verstörend wirkt eine Szene, in der jemand mit einem hochempfindlichen Tonabnehmer ihren Körper abtastet. Im musikalischen Ensemble des Konzertes übernimmt Deep Schrott den Bläser-Part – mit einem Arsenal an Blasinstrumenten: Neben den Bass-Saxophonen operieren Deep Schrott-Musiker mit allen möglichen Instrumenten der Saxophon-, Klarinetten- und Flötenfamilie. Am Schlagzeug sorgt Dirk-Peter Kölsch für den Takt, wobei bei der Konzeption des Stücks die Einhaltung der rhythmischen Grundstruktur bei allen Musikern durch den Timecode über Kopfhörer erreicht wird. Neben den Videoprojektionen und der Elektronik zeigt sich Frank Schulte verantwortlich für das Sounddesign und damit für eine Reihe von Klängen aus der elektronischen Zauberkiste. An der Gitarre sorgt Tobias Hoffmann für den rhythmischen Fluss und setzt dabei auch jazzige und rockige Akzente.

Mit 60 Minuten. Flussabwärts gelingt Dirk Raulf und seinem Orchester ein äußerst ansprechender musikalischer und optischer Bilderreigen zum Thema ‚Wasser‘, die Performance ist ausgesprochen stimmig und ansprechend. Erreicht wird mit der eigentlich streng formbestimmten Grundstruktur ein hoher Genussfaktor. Die verschiedenen musikalischen, textlichen und visuellen Elemente und Versatzstücke fügen sich zu einem runden Ganzen, zu einer suggestiven synästhetischen Gesamtwirkung. Chapeau dem Komponisten und den umsetzenden Akteuren! Man wünscht sich weitere Wiederaufnahmen und mediale Reproduktionen dieses Gesamtkunstwerks.

 

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