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Empfindsamer Entertainer

Ian Shaw begeisterte auf der Wasserburg Lüttinghof

Gelsenkirchen, 13.12.2014
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Bernd Zimmermann

Ian Shaw bestreicht das eher dünn gesäte Segment der Jazz-Sänger – da behauptet sich eine kleine männliche Minderheit gegenüber der riesigen Flut weiblicher Kolleginnen in dieser Zunft. Und wie – könnte man im Falle des gebürtigen Walisers Ian Shaw ausrufen, der erst mit 18 das Singen für sich entdeckte und es damit mal eben zu Weltruhm brachte!

Was schöpfte der gebürtige Waliser auf der Burg Lüttinghof doch aus seiner riesigen Musikalität und einer ebenso ansteckenden Ausstrahlung auf der Bühne!

Als bekennender Genießer verschmäht Shaw die Plastikflaschen mit stillen Wasser und ölt viel lieber mit einem guten Weißwein seine Stimme. Auf Anhieb fühlt er sich auf der Burg Lüttinghof frei genug, um nach Herzenslust mit seinem Publikum zu loskommunizieren.

Man ist sogleich hin und weg von dieser Stimme. Und wenn Shaw singt, dann mutet dies durch und durch ehrlich an. Und es geht einiges – gesangstechnisch betrachtet. In himmelhohe Falsett-Register schraubt er sich hoch, um im nächsten Moment mehrere Oktaven tief in den Keller abzutauchen. Näselnd, kehlig, schneidend, aber auch samtig, klar, vibrierend – es reichen schon die ersten Gesangsphrasen, um ein ganzes Feuerwerk an beschreibenden Adjektiven im Kopf des Hörers freizusetzen. Dazu spielt er mit präzisem impulsivem Timing auf dem Flügel – Stimme und Hände auf den Tasten werden eins.

All dies nimmt sich nie selbst zu ernst. Ian Shaw zieht Grimassen, erzählt skurrile Anekdoten aus dem prallen Leben in Londoner Jazz- und Schwulenclubs, er lästert über Australier und deren Attribute, mit der sie trockenen weißen Wein goutieren würden, an dem er sich selber gerade labt. Und womit er auch mal den weihnachtlich aufgestellten LED-beleuchteten Plastikschneemann „tauft“, damit auch dieser nicht zu kurz kommt.

Und er tut genau dies, wodurch sich ein guter Komiker auszeichnet: Selber überhaupt nicht über die eigenen Witze lachen und auch möglichst „ernst“ gucken dabei. So viel kurzweilige Nähe zwischen Entertainer und Publikum ist die beste Voraussetzung für eine Reise ins „Century of Song“ – denn als ein solches sieht Ian Shaw das 20. Jahrhundert.

Joni Mitchel ist ein ganz großes Thema für den Briten. Vor allem seine Interpretation von „Both Sides Now“ streichelt die Seelen. Michel Legrands Ballade „How do you keep the music playing“ wirkt so erfreulich losgelöst von jeder Weichspülerei, welche solche Songs ja im kommerziellen Mainstream oft erleiden müssen.

„Dance me to the End of Love“ von Leonard Cohen bekommt seine würdige feierliche Melancholie – Ian Shaw weiß eben für jede emotionale Dosierung die richtigen Stimmen-Register zu ziehen. Und er hat ein riesiges Arsenal davon! Das ergreifende „Ne Me quitte pas“ mixt er gekonnt mit anderen Zitaten und Versatzstücken, das dieses Stück schon fast wieder Leichtigkeit atmet.

Auch dieser Konzertabend kommt an der allgegenwärtigen Weihnachts-Etikettierung nicht vorbei - doch Ian Shaw ist geschickt genug, dass er das Thema so ironisierend wie möglich, aber auch gefühlsintensiv wie nötig an geht - etwa durch sehr schräge Interpretation von französischer „Weihnachts-Film-Musik“ aus den 1930er Jahren, was wie ein akustischer Comic Strip wirkt.

Jemand der mit Größen wie Abdullah Ibrahim gemeinsam auf dem Zenit der musikalischen Empfindsamkeit agiert, der darf, ja muss sich auch mal kritisch über allzu banale Trivialmusik auslassen dürfen. Also bekommt Stevie Wonders unsägliche Schnulze „I just called to say I love you“ (gleichzeit wohl der größte Verkaufserfolg des US-Soulsängers) einige verächtliche Sprüche ab. Und Ian Shaw demonstriert sogleich, dass Stevie Wonders quirliges „My Name is big brother“ doch die eindeutig bessere Wahl ist.

Und er croonte mit Frank Sinatra um die Wette, durchlebte einen bestens geerdeten Blues, zeigt sich in vielen akrobatischen Scatgesang-Passagen als ein höchst beweglicher Improvisator. Er wärmte die Herzen, so dass es oft in großen Momenten zum Dahinschmelzen gipfelte, inszenierte eine wundervolle Mitsing-Aktion mit seinem Publikum und gab schließlich sogar mal die Bühne frei für den spontanen „Gastauftritt“ einer mutigen Zuhörerin, die ebenfalls den Jazzgesang pflegt. Dies alles riss das Publikum zum finalen Schlussapplaus nachhaltig von den Stühlen.

Das ausführliche Pausengespräch mit Ian Shaw gibt es in der Rubrik Jazzreports zu lesen.

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