Innovativer zukunftsorientierter Jazz
Eindrücke vom New Colours Festival Vol. 1
TEXT: Uwe Bräutigam | FOTO: Oliver Hochkeppel
GELSENKIRCHEN BESITZT VIELE EINDRUCKSVOLLE SPIELSTÄTTEN
Das Besondere des Festivals sind neben der großartigen Musik die besonderen Spielstätten, an denen die Konzerte stattfinden. Vom Nordsternturm, einem alten Steinkohle-Förderturm, bis zur Heiligkreuz-Kirche, einem Prunkstück des Backsteinexpressionismus, geben die Orte der Musik zusätzlich einen besonderen Flair. Auch der Eröffnungsabend fand an solch einem besonderen Ort statt, der „Kaue“, die bis in die achtziger Jahre ein Teil der Zeche Wilhelmine Victoria war. Für Menschen, die nicht aus dem Ruhrpott kommen, sei erklärt, dass eine Kaue der Waschraum der Bergarbeiter war. Heute finden dort Kulturveranstaltungen statt.
EINTAUCHEN IN DIE WEITE DER NORDISCHEN LANDSCHAFT
Daniel Herskedal, ein Musiker und Klangkünstler aus Norwegen, erfüllte die Kaue mit Klängen, die in dieser Form einzigartig sind. Herskedal gab ein Solokonzert, spielte Tuba und Basstrompete und setzte dabei Loop-Technik ein, sodass es oft klang, als stünde eine ganze Band auf der Bühne. Das tiefe Blech der Tuba findet sich im Jazz immer wieder, aber die Art und Weise, wie Herskedal das Instrument bediente, ließ einen bei geschlossenen Augen vergessen, dass es sich um eine Tuba handelte. Vergleiche hinken immer, aber ich möchte trotzdem einen anbringen: Daniel Herskedal spielte die Tuba ähnlich wie Nils Petter Molvaer die Trompete – seine Tuba singt förmlich. Er spielte lange Haltetöne, die schwebende Klänge erzeugten, in die er seine Melodien hineinwob. Dabei gelang es ihm, gleichzeitig eine besondere Spannung aufzubauen.
Er hat eine ganze Reihe neuer Stücke gespielt, die aus seinem neuen Album stammen, das demnächst erscheint. Um an der Musik des Albums zu arbeiten, hatte er sich drei Wochen in die Einsamkeit der norwegischen Landschaft, in ein Holzhaus, zurückgezogen. Seine Lebensgefährtin stammt aus dem Volk der Sami. Herskedal hat sich in die Sami-Sprache und -Musik eingearbeitet und übernimmt alte traditionelle Sami-Melodien in seine Musik. Die Sami-Melodien werden ursprünglich gesungen, oft ohne Worte. Auf seiner Basstrompete spielte er ein solches Lied, auch hier war der „Gesang“ der Trompete gut zu hören. Über lange Drones legte er die Melodie, das Ganze hatte eine fast sakrale Anmutung. Bei seinem letzten Stück erzeugte er mithilfe von Loops eine dramatische Hintergrundstimmung, zu der er dann spielte. Daniel Herskedal war ein regelrechter Klangmaler, der das Publikum in die Weite der norwegischen Natur entführte.
HARTE BEATS UND WEICHE MELODISCHE LINIEN AUS DOWN UNDER
Die nächste Band des Eröffnungsabends kam aus Australien: The Vampires. Als erste Instrumentalgruppe sind sie gerade mit dem Australian Music Prize ausgezeichnet worden. The Vampires waren 2019 das letzte Mal in Europa und haben damals auch in NRW gespielt, zusammen mit der Posaunistin Shannon Barnett, die ebenfalls aus Australien kommt und auf einigen früheren Alben mitgewirkt hat. Siehe Konzertbericht:
https://nrwjazz.net/reviews/jazz-von-down-under-the-vampires-feat-shannon-barnett
Die Musik der Vampires zeichnet sich durch eine kraftvolle Rhythmusgruppe mit Alex Masso an den Drums und Noel Mason am E-Bass aus, gepaart mit melodischen Bläsern – Jeremy Rose am Saxofon und Nick Garbett an der Trompete. Der harte Beat, der oft durch das ganze Stück getragen wurde, bildete einen spannungsgeladenen Gegensatz zu den weichen melodischen Linien von Saxofon und Trompete. Vor allem das Saxofon brach immer wieder in freie Improvisationen voller Wildheit aus. So blieb die Musik immer spannend. Neben den manchmal rockigen Uptempo-Nummern gab es auch stimmungsvolle Balladen. Bei einem Stück spielte Nick Garbett lange Haltetöne mit viel Hall, wie wir es von den nordischen ECM-Musikern kennen. The Vampires ließen in ihre Musik Elemente des späten Miles Davis, ebenso wie Jazzrock oder Reggae einfließen und schafften so einen lebendigen modernen Jazz, der auch Zuhörer*innen außerhalb der Jazzgemeinde anspricht.
FRISCHER WIND AUS LUXEMBURG
Die beiden nächsten Konzerte besuchte ich am Samstagabend im Schloss Horst, dem Hauptspielort des Festivals. Das Schloss aus dem 16. Jh. ist das älteste Gebäude Gelsenkirchens und gehört zu den wichtigsten Renaissancebauten Westfalens. In der architektonisch außergewöhnlichen Glashalle, die an das Schloss anschließt, finden heute Konzerte statt. Die Bühne liegt vor einer beeindruckenden Renaissance-Fassade, die bunt angeleuchtet wird und der Halle einen einzigartigen Flair gibt. Schon auf dem letzten New Colours Festival waren einige spannende Gruppen aus Luxemburg zu hören. Dieses Jahr war Dock in Absolute zu Gast auf dem Festival. Dock in Absolute ist ein Trio mit Jean-Philippe Koch am Piano und an den Kompositionen, David Kintziger am E-Bass und Victor Kraus an den Drums. Ein hochkarätiges Trio, das musikalisch aus der Klassik schöpfte, aber auch rockige Elemente in ihren progressiven Jazz einfließen ließ. Jean-Philippe Koch, der Komponist der Band, spielt neben Dock in Absolute noch im Koch Trio, einem erfolgreichen Klassik-Trio, zusammen mit seinem Vater und seiner Schwester, die beide Violine spielen. So ist es kein Wunder, dass immer wieder an Debussy geschulte Pianopassagen aufblitzten. Bei dem Pianosolo-Stück „Tears for Peace“ wurde die impressionistische Tonmalerei von Koch besonders deutlich.
Die Musik von Dock in Absolute zeichnete sich durch vielfältige Wechsel aus. So konnte ein wildes Crescendo mit rockiger Rhythmusbegleitung in ein zartes klassisch inspiriertes Klaviersolo übergehen, das langsam an Fahrt aufnahm und dann in perkussives Pianospiel überging, befeuert von Bass und vor allem Schlagzeug. Viele Stücke stammten aus ihrem neuen Album „Reflect“, so das eben genannte „Tears for Peace“, „Swell“, „Sophia“, das Kochs kleiner Tochter gewidmet ist, und „Ascension“. Letzteres Stück war ein besonders rhythmusbetonter Titel mit wildem, perkussivem Klavier. Dock in Absolute hatten einen ganz unverwechselbaren Sound, der immer wieder unvorhersehbare Wendungen in sich trug. Wirklich eine spannende Band aus Luxemburg.
GIRLS IN AIRPORTS AUS DÄNEMARK
Die zweite Band des Abends hat ebenfalls einen fantasievollen Namen: Girls in Airports, und es versteht sich von selbst, dass kein einziges Girl in der Band ist. Passend zu ihrem Namen hatte die Band am Tag zuvor in Berlin auf dem Tempelhofer Feld, dem ehemaligen Flughafengelände, gespielt. Die „Girls“ – mit Martin Stender am Saxofon, Mathias Holm an den Keyboards, Victor Dybroe an der Perkussion und Anders Vestergaard an den Drums – haben mittlerweile acht Alben veröffentlicht. Für den besonderen Raum im Gelsenkirchener Schloss Horst wählten sie Stücke aus, die zu dieser Akustik besonders passten.
Susanne Pohlen und Bernd Zimmermann, die Festivalmacher*innen, hatten die Band 2019 in London auf dem Jazzfestival gehört, waren begeistert und luden sie nun für ihr Festival ein. Girls in Airports hatten eine ganz besondere Instrumentierung, die auch ihren Sound prägte. Perkussion und Drumset erdeten den atmosphärischen Sound des Keyboards, das vom Saxofon und ab und an von einem E-Klavier begleitet wurde. Wie Martin Stender erklärte, entwickelten sich die Stücke oft aus sehr kleinen musikalischen Ideen, die dann immer weiter ausgebaut wurden. So begannen die Stücke oft mit ostinaten Rhythmen, in die dann das Keyboard mit flächigem Sound hineinging, sodass ein tranceartiger Klang entstand, zu dem Martin Stender wechselweise Tenor-, Altsaxofon oder Flöte spielte.
Zwischendurch spielte Mathias Holm auch auf einem indischen Harmonium. In diesem Soundteppich, dem man sich nicht entziehen konnte, fanden sich Elemente von Jazz, nordischer Folkmusik und Indie. Mit dieser innovativen Mischung sind Girls in Airports ungemein erfolgreich und spielen auch auf großen Festivals außerhalb der Jazzszene, wie dem Roskilde Festival.
Diese vier Konzerte (von insgesamt 12) hatten alle einen ganz eigenen, unverwechselbaren Klangkosmos. Alleine diese Musiker aus Norwegen, Australien, Luxemburg und Dänemark haben eindrücklich das Motto „Vielfalt statt Einfalt“ verkörpert. Das war Jazz auf der Höhe der Zeit, Musik, die für die Zukunft gewappnet ist und auch Menschen außerhalb enger Genregrenzen ansprechen kann. Das New Colours Festival wurde seinem Namen wieder gerecht und präsentierte auch 2024 viele neue Klangfarben.