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Ein Volk von Gartenzwergen?

Hagen Rether machte wenig Musik

Marl, 01.02.2016
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Wenn ein Musikmagazin über einen Kabarettisten schreibt, braucht es erstmal eine „Schnittstelle“ zur Legitimierung - will sagen, dass irgendwann mal und im weitesten Sinne auch musiziert wird. Bei Hagen Rether, dem in Essen lebenden einstigen Absolventen der Folkwang-Musikhochschule dient der Flügel auf der Bühne im Marler Theater als Möbel, um darauf in bewährter Weise Bananen zu platzieren. Und die sind so unvermeidlich wie der seit fast 20 Jahren genutzte „Arbeitstitel“ der Bühnenprogramme des in Bukarest Geborenen: „Liebe“ – aber um die geht es weniger, denn da sind erst mal andere Themen vordringlicher.

Er lümmelt auf einem denkbar pianisten-ungeigneten Bürostuhl herum, nimmt erstmal ein Nickerchen und nimmt sich Zeit. Holt Atem. Und betont viel später mehrmals, dass längst noch nicht alles gesagt ist. Diese Ansage kann schon fast Angst machen, als sie kurz vor 23:30h nochmal erfolgt.

Was alles Angst Macht, ist überhaupt ein großes Thema seiner aktuellen Wirklichkeitsbetrachtung. Der Fokus von Rethers ernsthaften kabarettistischen Betrachtungen, liegt eher auf dem Psychogramm der Masse und nicht so sehr auf der Kritik an „denen da oben“, was andere ja schon bis zum Exzess betreiben. Die da oben machen all dies vor allem, weil „wir“ dies zulassen. Nicht enden wollend ist die Flut von Beispielen, an denen Rether den Blick lenkt auf unsere Hysterien, Luxusprobleme, auf allgemeine ausgestreute und bereitwillig aufgegriffene Symptome von Paranoia und kleinkindhaften Herdeninstinkten, aber auch auf allerhand perverse Maßlosigkeiten aus unserer heutigen Konsumwirklichkeit.

Diese Mixtur stärkt auch die Empfänglichkeit für un-aufgeklärte Botschaften. Damit meint er sogenannte „Wutbürger“ die für ihn auf derselben Stufe stehen wie die Millionen Verblendeten in den „Heiligen Kriegen“ dieser aus den Fugen geratenen Welt. Rether entwickelt eine Psychologie des Zorns, die von den Menschen weltweit Besitz ergriffen hat und das Handeln nach Vernunftkriterien zuverlässig im Sinne totaler Manipulierbarkeit aushebelt. Wenn AFD-Hetzer jetzt schon Schießbefehle fordern, dreht er das Rädchen noch eine Spur weiter und fordert „Todesstrafen für Selbstmordattentäter“. Vernunft ist oft weit weg in diesen Tagen.

Weiter analysiert er ein verbreitetes Klima von medialer Hysterie, die ein wachsendes kollektives Misstrauen, einen Kleinkrieg aller gegen alle generiert. Bürger echauffieren sich über nicht-korrektes Parken. Väter, die mit einem Kind auf dem Schoß auf einer Bank sitzen, geraten in Pädophilieverdacht. Lächerlich sind jene Skandale, in denen Einzelpersonen zur medialen Zielscheibe werden, heißen sie nun Edaty oder wie auch immer. Damit lässt sich wunderbar schön von anderen Dingen, um die es wirklich geht, die wirklich für die Zukunft bedeutsam wären, ablenken. Etwa, dass hintenrum Handelsabkommen wie TTIP eingefädelt werden, die vor allem den Interessen internationaler Großkonzerne dienen. Gelacht wird nicht mehr im Publikum des Marler Theaters, als Rether jene circa 300 000 indische Bauern thematisiert, welche durch die existenzvernichtende Politik des Monsanto-Konzerns in den Selbstmord getrieben wurden. Globale Profitinteressen nehmen schon längst keine Rücksicht mehr auf Einzelschicksale, die zu einem globalen Massenphänomen geworden sind.

Und man könnte jeden Kindergarten mal eben mit Blattgold auslegen, würde man endlich die ganzen Steueroasen dicht machen, durch die Imperien wie Apple oder Amazon immer mehr Geld aus realen Verwertungskreisläufen rausziehen, sodass private Vermögen in unglaublichem Maße immer weiter anwachsen und anderswo alles sinnlos tot gespart wird.

Rether, der selbst auch aktives Mitglied in globalisierungskritischen Bewegungen wie attac ist, demonstriert, dass dies alles zuverlässig getragen und gestützt wird von einer stumpfen Masse, welche sich um Dinge wie Frühbucher-Rabatte echauffiert, um dadurch auch wieder billig in irgendwelche Verblödungs-STrandurlaube zu fliegen, wodurch so langsam unsere ganze Biosphäre auseinanderbricht.

Wenn Hagen Rether jetzt in etwas verschlafenem Plauderton hier ganz viele große Fässer aufmacht, demonstriert er, wie einfach es jedoch ist, wieder in diesen Zusammenhängen zu denken.

Das ganz große, in allen Medien dominierende Thema will Hagen Rether daher auch in größere Zusammenhänge stellen, welche durch gezielte Stimmungsmache systematisch torpediert werden.

Nach der geheuchelten Willkommenseuphorie ist jetzt die Bedrohung der Allgemeinheit durch Mehrkosten ein dominierendes Talkshow-Futter. Mal eben zur Kostenfrage: Für so vieles wird Geld rausgehauen, auch öffentlich: „allein 30 Millarden pro Jahr zur Bekämpfung von Übergewicht“.

Wenn sich Europas Politiker damit brüsten, dass nun schon 70 Jahre Frieden und Stabilität herrschen, dann nur, weil Krieg, Hunger und Elend doch weitgehend „outgesourced“ wurden. Der Wohlstand, der hierzulande Segnungen wie Karbonfahrräder, Iphones, Frühbucher-Rabatte und Schuhen, die wir nach einer Saison wegschmeißen und die von Kindern hergestellt wurden, die selbst noch nie welche angehabt haben, basiert auf Lebensbedingungen, die in einem Großteil der Welt immer unerträglicher geworden sind.

Migrationsströme sind die logische Konsequenz – sarkastisch spielt Rether diesen Aspekt herunter, damit man als Zuhörer auch noch die Chance hat, mal selber auf etwas zu kommen: „Die kommen jetzt alle aus den anderen Ländern, um zu gucken,was wir hier machen“ sein lakonisches Fazit.

Die Realität ist beschämend: „Viele von denen putzen Autobahnklos und gucken vor lauter Scham zu Boden. Sie hüten die Kinder und pflegen die Omas, weil wir selbst dazu kein Bock haben“. Was tut das Volk? Es volkt und ereifert sich. Lässt sich als kleinkindgleiche Masse indoktrinieren und gängeln, gibt Verantwortung ab. Und lässt sich auch gerne verhängnisvoll aufhetzen. Wie kann man „denen da oben“ so viel lähmende Macht einräumen? „Sind wir Gartenzwerge?“ Sind wir alle nur so passiv, weil Angela Merkel so passiv ist? Werden wir erst wieder eine Gesellschaft von engagierten, aktiven, handelnden Mitgestaltern und Kümmerern, wenn uns dies von einer Leitfigur „da oben“ vorgemacht wird?

Bühnenkünstler, die wie Hagen Rether das klassische Fach des politischen Kabaretts bedienen, sind im ganzen Unterhaltungszirkus nur noch eine Minderheit - und umso wichtiger für den demokratischen Diskurs, da Rethers Prominenz auch eine große Erreichbarkeit für viel Publikum sicherstellt. Viele von Rethers sprachwitzigen Pointen erzeugen Lacher im Publikum, zuweilen auch Beifallsstürme, die man sich durchaus auch noch engagierter vorstellen könnte. Ob sie auch das Denken ändern und idealerweise das Handeln? Konkrete Anregungen gibt es ja durchaus! Vielleicht das nächste Buch nicht mehr bei amazon kaufen, sondern lieber den Buchhändler um die Ecke beauftragen? Oder beim Einkaufen drauf gucken, von wem bestimmte Produkte sind? Nicht mehr die Talkshow auf den Privaten, sondern eine Doku auf arte gucken?

Und dann, irgendwann, ist es so weit: Hagen Rether greift zum ersten Mal in die Tasten seines Flügels. (Vorher hat er ihn übrigens wie ein guter, reinlichkeitsbeflissener Deutscher, mit Lappen und Sprühflasche sauber geputzt.) Eine wohlklingende, ja regelrecht wärmend wirkende Jazzimprovisation soll aber dies genau nicht tun, sondern wird im nächsten Moment schon wieder zur Untermalung weiterer bewusstseinsbildender Reflexionen und Kommentare. Es gibt einfach in diesen Tagen viel zu viel zu sagen, als dass man es beim schlichten Musikmachen belassen könnte!

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