Drachenflug im Dortmunder Herbst
Bill Evans & Soulgrass im domicil
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Mit wem hat dieser Mann nicht schon alles gespielt? Von Miles Davis (22-jährig!), Herbie Hancock oder John McLaughlin bis Mick Jagger... Was hat dieser Mann nicht schon alles gemacht? Jazz, Jazzrock, Funk, Rock, Jam, Fusion, HipHop, Reggae, Country... Bill Evans ist ein echter Fusion-Mann: Er spielt mit Leuten zusammen, er bringt Dinge zusammen, die in dieser Weise noch nicht gehört wurden, zumindest nicht von Beginn an, die allerdings später diverse Epigonen auf den Plan rufen.
Was Bill Evans jetzt mit seiner Soulgrass-Band auf ihrer Tour und auf ihrer bereits dritten gemeinsamen CD ‚Dragonfly’ präsentiert, ist ein denkwürdiges Mischen der unterschiedlichsten musikalischen Aromen. Natürlich ist das Jazz-Gen bei Soulgrass – v.a. beim Sax von Bill Evans - unverkennbar. In dieses fügt sich das Banjo von Ryan Cavanaugh ein – ein eher der amerikanischen Folkmusic zuzuordnendes Instrument mit entsprechenden Klangfarben und der (Stereo-)Typik der Americana. Die E-Gitarre von Mitch Stein, der 6-Saiten-Bass von Dave Anderson und noch stärker Josh Dion an den Drums geben Soulgrass einen stark rock-orientierten Anstrich.
Überhaupt ist der Auftritt von Soulgrass im Vergleich zu dem von vor gut drei Jahren ebenfalls im Domicil gereifter in dem Sinne geworden, dass die Gruppe auf der Suche nach einem eigenständigen Stil noch stärker zusammengewachsen ist. Die Integration von Idiomen des Jazz, Funk, Folk, Country, Bluegrass und Rock zu etwas Eigenständigem gelingt Bill Evans mit Soulgrass und dem Material aus ihrer neuen CD ‚Dragonfly’, ihnen gelingt damit eine äußerst souveräne und routinierte Mischung der verschiedenen Stilrichtungen. Titel wie ‚Madman’ oder ‚Kings And Queens’ unterstreichen die eindeutige Verlagerung zugunsten von stark am Rock ausgerichteter Musik. Eine Langfassung des Folkrock-Klassikers ‚The Weight’ von The Band von 1969 – bekannt v.a. durch den Easyrider-Soundtrack – zeigt eine Verbeugung vor dieser Traditionslinie, aber in den ausgiebigen Solo-Passagen auch gleichzeitig ein kreatives Abarbeiten an diesem geradezu populären Material. Ein echter Drachenflug eben.
Bei Puristen der jeweiligen Lager führt diese Art von musikalischem Melting-Pot sicherlich zu einem distanzierenden Naserümpfen: Die Jazzfraktion dürfte sich entsetzt über die Country-Anklänge und die Rocklastigkeit und erst recht über die Gesangseinlagen, überhaupt über den retrograden Zuschnitt äußern, den Rock- und Bluegrass-Anhängern sind v.a. die zahlreichen solistischen Einlagen zu „jazzig“ und „funkig“, die Wucht und Energie der Musik dürften die Folk- und Country-Adepten umhauen. Zugeben muss man: Die Musik, die Soli sind erste Sahne. Bill Evans brilliert mit dem Tenor- und dem Sopran-Sax, seine Virtuosität und sein unerschöpflicher Ideenreichtum zeigen, dass er auf eine lange und vielfältige Erfahrung im Zusammenspiel mit den unterschiedlichsten Musikern und Musikrichtungen und mit seinen eigenen Entwicklungen (19 Soloalben!) verweisen kann, dass er diese Erfahrungen in sein energetisches Spiel mit viel Druck, Drive und Raffinesse einbezieht. Auch Ryan Cavanaugh geht mit seinen Banjo-Soli weit über das hinaus, was man üblicherweise von diesem Instrument hört.
Die Frage, die sich beim Wein stellt, ob ein Cuvée eher ein bloßer Verschnitt oder eine gelungene neue Geschmackskomposition bedeutet, stellt sich auch bei Soulgrass. So sehr der Stilmix der Gruppe auch eine Progression im Zusammen- und Solo-Spiel erkennen lässt, eine innovative spannende Weiterentwicklung des Jazz-Idioms vermag man im – wenn auch äußerst gekonnten - Rückgriff auf Muster des Rock und Bluegrass und einer entsprechenden „Fusion“ kaum ausmachen.