Diersfordter Sommertöne können auch Jazz
7. Sommerton-Festival
TEXT: Peter E. Rytz, Bernd Zimmermann | FOTO: Peter E. Rytz, Bernd Zimmermann
Dass Moers, Münster oder Dortmund Jazz in Nordrhein-Westfalen können, ist eine Binsenwahrheit. Mit dem Sommerton Festival in der Schlossanlage Diersfordt bei Wesel macht seit einigen Jahren eine Location inmitten der niederrheinischen Provinz mit einem ambitionierten Programm auf sich aufmerksam.
Markus Stockhausen und Richard Galliano waren schon da, wie im letzten Jahr Vincent Peirani & Émile Parisien, das Michael Wollny Trio, Kjetil Bjørnstad und Dorantes & Renaud García-Fons dem Festival ihre Ehre gaben. Der Eröffnungsabend 2018 hält mit Motion Trio invites Leszek Możdżer und dem Anouar Brahem Quartet den Qualitätsstandard auf diesem hohen Niveau.
Vor jenem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, was den künstlerischen Leiter Wilfried Schaus-Sahm bewogen haben mag, dem chinesischen Pianisten Luo Ning die Ehre zu erweisen, das Festival zu eröffnen. Fast entschuldigend kündigt er Luo Ning als Empfehlung des Chinesischen Kulturzentrums Berlin an. Zu einem Zeitpunkt, als das Programm eigentlich schon feststand, sei der Luo-Ning-Wunsch an ihn herangetragen worden. Warum auch immer diesem Wunsch unbedingt nachgegeben worden ist - das Programm musste relativ kurzfristig verändert werden.
Leider auf 30 Minuten beschränkt, wie Schaus-Sahm bedauert, ist da offenbar ein Programm mit heißer Nadel gestrickt worden. Zu einem Trio mit einem Bassist und Drummer aus der hiesigen Jazzszene, deren Namen allerdings weder im Programm des Festivals genannt noch nach Recherche ausfindig zu machen sind, ergänzt, erweist sich der vollmundig als Europa-Premiere angekündigte Auftritt nicht mehr als eine schaler Aufguss des Modern Jazz der 1960er Jahre.
Deutlich vernehmbares Wau-Wau-Hundegebell während des letzten Sets des Trios hört man einerseits lächelnd als Hinweis, dass man auf dem Lande ist. Andererseits wirkt es wie ein stöhnend ausatmender Wachruf, den Sound aus seinem lethargischen Gemurmel zu wecken.
Nach diesem müden Auftakt mischt das Motion Trio – die Akkordeonisten Janusz Wojtarowicz, Pawel Baranek und Marcin Galazyn – das Zelt in der Schlossanlage Diersfordt zu Beginn mit eigenen Kompositionen kräftig auf. Beeinflusst von polnischer Folklore, verarbeiten sie Einflüsse von Rock, Jazz und Klassik zu einem virtuosen Trio-Spiel. Wenn man nicht sehen würde, dass sie drei Akkordeons ohne elektronische Aufrüstung spielen, könnte man durchaus zu hören glauben, ein klassisch besetztes Jazz-Trio mit Piano, Bass und Drums sei am Werk. Das Leit-Akkordeon mit einer Klavier-Tastatur mutet mit seinem Sound pianistisch an, wie die beiden anderen an ihren Akkordeons mit perkussiver Emphase Bass- und Drum-Linien hörbar machen.
Mit der Motion-Trio-Einladung an Leszek Możdżer erklimmt der gemeinsame Sound schwindelerregende Höhen. Eröffnend mit einem Impromptu a lá Frédéric Chopin perlen aus dem Klavier unter Możdżers Händen tonmalerisch farbige Musik-Kaskaden. Chopin is wunderful, ist der knappe, gleichwohl eindeutige Kommentar eines der weltweit besten Chopin-Interpreten.
Henryk Góreckis Komposition String Quartet No. 3, transkribiert für Klavier und drei Akkordeons, geriert sich im Zusammenspiel von Motion Trio invites Leszek Możdżer zu einem exzellenten Beispiel für Klassik in Extremen.
Als Höhepunkt und Abschluss des ersten Tages geplant, kann man mit dem Anouar Brahem Quartet eigentlich nichts falsch machen. Brahem, der seit mehr als 20 Jahren in unterschiedlichen Besetzungen beweist, über welchen Klangreichtum die Oud, die arabische Kurzhalslaute verfügt, ist inzwischen schon selbst seine eigene Legende. Mit seinem Charisma gelingt es ihm überzeugend auf einmalig authentische Weise, arabische Musiktraditionen mit denen Europas und Afrikas zu verbinden.
Brahem mit Khaled Yassine (Darbouka, Bendir) gewissermaßen den arabischen Background bildend, zelebriert mit dem introvertiert sowie asketisch konzentrierten Bassklarinettisten Klaus Gesing und dem extrovertiert schwingenden Bassisten Björn Meyer eine Magie von Musik, die man ursprünglich mit Weltmusik bezeichnet hat. In der globalen Welt ist diese musikalische Integration selbst zu einer Welt geworden, die das Staunen über anderen Kulturen scheinbar verloren hat. Da wirkt es fast so, als wollten sie das Staunen neu beschwören, wenn sie an diesem Abend ausschließlich Titel ihrer vielfach hochgelobten CD The Astounding Eyes of Rita spielen.
Ein Versprechen an das Publikum, das Wilfried Schaus-Sahm mit der Ankündigung des Quartetts gibt, nach Konzertende nach Hause zu schweben, befördert Brahem massiv mit seinen immer wieder eingestreuten, melancholisch anmutenden Klagelaute zu seinem enigmatischen Oud-Spiel. Allerdings hat weit vor Ende des Konzerts ein nicht unerheblicher Teil des Publikums offenbar genug von dem immer mehr Melancholie verströmenden Spiel.
Die, die das Konzert überraschend frühzeitig verlassen, in den nach der lange Hitze wieder kühleren Spätsommerabend eintauchen, tief durchatmen und sich vom Zelt Stück für Stück entfernen, entkommen Brahems Musik aber nicht wirklich. Unter dem dunklen Nachthimmel kontrastiert der helle Lichtschein des Zeltes den Weg. Über ihm funkeln staunend die Sterne: The Astounding Eyes of Rita.
Am zweiten Tag mussten die Veranstalter gleich eine schlechte Nachricht überbringen. Das bereits vor zwei Jahren eingestielte Konzert mit der Estnischen Sängerin und Violonistin Naarja Nuut musste ausfallen, weil das Gepäck inklusive aller Instrumente auf der Flugreise nach Wesel abhanden gekommen war. Netterweise haben sich Luciano Biondini, Michel Godard und Lucas Niggli sowie Stefano Bollani bereit erklärt ihre Konzerte zu verlängern, sodass die Besucher doch noch auf ihre Kosten kamen.
Luciano Biondini, Michel Godard und Lucas Niggli ließen unschöne Programmänderung schnell vergessen. Obwohl zu Beginn des Konzerts etwas müde wirkend steigerten die drei filigranen Virtuosen von Minute zu Minute. Mitreißende Soli und himmlische Melodien verwandelten die Umgebung des Zeltes neben dem Schloss in der bezaubernden niederrheinischen Landschaft um Diersforth. Das herrliche Wetter tat dabei sein übriges.
"Das ist ja ein lustiger Musikant", so die Reaktion eines Besuchers auf das Konzert von Stefano Bollani. Bollani, ausgestattet mit Flügel und Rhodes bot dem Publikum einen bunten Strauß jazziger Meldodien seiner mittlerweile über 30 eingespielten Alben. Darunter das italienische Evergreen "Quando, Quando, Quando", das er 2015 auf seinem Album "Arrivano Gli Alieni" veröffentlichte. Zum Ende dieses sehr abwechslungsreichen Konzerts versuchte sich Bollani, mittlerweile in glänzender Spiellaune sogar gesanglich an Puccini's "Nessun Dorma". Aber notwendig war dieser Song nicht, denn geschlafen hatte bei diesem Konzert keiner.
Liebevoll organisiert mit einem ganz besonderen Charme kann man das Sommerton-Festival mit Fug und Recht als das Highlight im Kulturkalender des Kreises Wesel und eine feste Institution im Festival-Kalender Nordrhein-Westfalens bezeichnen. Und - es entwickelt sich zunehmend von Seiten des Publikums zu einem nationalen und internationalen Festival. Schade nur, dass sich die Programmverantwortlichen keinen Blick für die Nordrhein-Westfälische Jazzszene haben. In diesem Jahr, wie auch in den Jahren davor, war nicht mal eine Hand voll deutscher Jazzmusiker am Start. NRW kam gar nicht vor. Ein Hinweis, dem sich auch das nordrhein-westfälische Kultusministerium anschließen sollte, das dieses Festival fördert.