Die wunderbare Welt der Anomalie
Enjoy Jazz 2013
TEXT: Sven Breidenbach | FOTO: Manfred Rinderspacher
In der Ankündigung ist zu lesen: Michael Wollny, der erste Artist in Residence bei Enjoy Jazz baut seine Klangwerkstatt an diesem Abend mit drei Kollegen weiter aus. Auch sie Meister ihres Fachs: Wollnys alter [em]-Mitstreiter Eric Schaefer am Schlagzeug ist dabei weit mehr als Rhythmusgeber; Tim Lefebvre, der im Frühjahr bei Wollnys Trio schon für Eva Kruse am Bass eingesprungen ist, wird ebenfalls mit von der Partie sein, und Vincent Peirani, ein aufgehender Stern am europäischen Jazzhimmel, bringt mit seinem Akkordeon eine neue Klangfarbe in Wollnys Triosound ein. ... . Man muss über keine großen prophetischen Fähigkeiten verfügen, um schon jetzt sagen zu können, dass dieses Konzert einer der Höhepunkte des Festivals sein wird.
Peirani's Akkordeonspiel eröffnet das Kopfkino. „Die wunderbare Welt der Amelie“. Dann kommen durch das virtuose und abwechslungsreiche Spiel des langen Franzosen Bilder eines anderen Films ins Kopfkino. „Krieg der Knöpfe“. Bei Peirani aber sind Tasten und Knöpfe stärker ausgeglichen. Bis zur Pause steigert sich das „Trio plus 1“ zunehmend. Wie ein offener Wein, der Luft zum Atmen braucht.
Mit Beginn des 2. Sets wird es lebendiger. So ist der barfüßige Franzose nun wie ein Echo oder Widersänger der Flügels. Ein call and response, ein buntes, grooviges Miteinander. Schäfer flankiert gekonnt von seiner Seite aus das Geschehen. Tim Lefebvre ist ebenso Motor und Getriebe für das “Trio plus 1“. Eine letzte Zugabe, „Little person“. Mit einem Hauch "gute Nacht"-Lied wird das Publikum ein wenig „lullaby“ entlassen.
Ein capitoler Schaukasten - Wunderkammer XXL. Mannheim.
Nein, diesmal nicht die alte Feuerwache, sondern erstmals seit dem 15-jährigen Bestehen von enjoy Jazz kommt der künstlerische Leiter Rainer Kern an seine Jazz-Erlebnisstätte zurück ins Capitol. Dann gleich in dieser kompakt-kapitalen Form.
Das Programm weist wie folgt darauf hin: Je länger und öfter die „Wunderkammer“, in die uns Michael Wollny und Tamar Halperin 2009 einluden, begehbar ist, desto stärker offenbart sie sich als Labyrinth, als hybrider Raum, der sich um die Grenzen zwischen Jazz, Pop und Klassik nicht länger schert, sondern unter Zuhilfenahme diverser Tasteninstrumente experimentell und kreativ zwischen Alter Musik, (schwarzer) Romantik und Minimal Music irrlichtert und dem durch die Betonung des Repetitiven fast schon den Brückenschlag zum Techno gelingt. Wird das musikalische Material dann auch noch für eine Bigband orchestriert, werden weitere Ecken der „Wunderkammer“ ausgeleuchtet, die so vorher nicht sichtbar waren.
Sogar aus Essen und Mönchengladbach kommen einige interessierte Jazzfreunde. Spannend, ohne Pause wird es zugehen. Tamar Halperin ist am Cembalo und Celesta flink-fleißig, melodisch-orignell. Wie auf einem Melkschemel 2 Kühe melkend wirkt sie virtuos an den Tasten.
Bei den ersten 3 Stücken sind Wollny und Halperin die treibenden Kräfte, beide sind wach und hungrig. Mit dieser Euphorie stecken Sie auch die HR-Big Band an. Diese wirken anfangs klar-präzise und ein wenig zögerlich. Doch mit dem Stück Sageé (es geht um eine Doppelgängerin, die gleichzeitig an mehreren Orten gesehen wird) fällt jede Zurückhaltung und es kommt richtig Schwung in die Bude. Der Solist Oliver Leicht besticht durch absolut-dynamischen Einsatz. Das Capitol ist wahrlich zur Wunderkammer geworden, werden doch die Melodien und Töne durch 16 zusätzliche Akteure verstärkt. Trotz der schwierigen Akustik im alten Kuppelsaal ist der Sound präzise abgestimmt.
E.S.T. Symphony “Orchestral music of the Esbjörn Svensson Trio”
Gespannt-skeptische und konzentrierte Minen. Die Symphoniker nehmen Platz. Freude ist hier noch keine zu sehen. Dan Berglund (b), Magnus Öström (dr), Michael Wollny (p), Thomas Siffling (tp), Lage Lund (g), Marius Nesset (sax) sowie Dirigent Hans Ek betreten die Bühne. Im Publikum knistert es vor Spannung. Keine Ansage, keine Ankündigung. Alle sind wach & gespannt.
Anfangs Gedanken an Wassermusik. Wie Seetang in der Brandung –Unterwasserwirbel- -aufsteigende Luftblasen - Erinnerungen ans Tauchen. Nach den ersten 2 Titeln ist es Magnus Öström, der sichtlich bewegt ans Mikro geht und das Publikum begrüßt. Ein Kloß im Hals. Neben den erwähnten Musikern applaudieren auch alle explizit für Esbjörn Svenson. Ihm verdanken wir alle diesen Abend. Er hat seine Werke mit dem Sinfonieorchester komponiert. Öström hat das Eis gebrochen.
Öström am Schlagzeug spielt den Herzschlag, den Rhythmus. Kurz vor der Pause, das letzte Stück, „Wonderland Suite“. Wenn es im Wunderland auch Gänse gibt, weiß ich nun wo diese Haut her kommt. Wollny übernimmt bescheiden und dennoch bestimmt den Lead. Schon jetzt brodelt es im Saal. Ein schwingender Rhythmus ist auf den mitwippenden Zuschauergesichtern zu erkennen. Das Ende der Wonderland Suite klingt wie Hummelflug und Kavallerie. Atemberaubend. Obwohl eigentlich nur die Pause ansteht, verlangt das Publikum schon jetzt eine Zugabe. Stehende Ovationen, langer langer Applaus.
Alle sind mitgenommen, in Gedanken. Fühlen - Esbjörn ist hier. Irgendwo hat er dennoch seine Finger im Spiel.
Zweites Set. Eine Veränderung ist zu spüren. Die Symphoniker wirken freudiger, bewegter. Es fehlen die Worte, eine enorme Steigerung. Neben dem überragenden Öström und einem brillianten Lage Lund hat sich Wollny an das Podest des Esbjörn Svenson herangewagt. Er hat sich ihm mit Respekt genähert, nicht seinen Platz eingenommen, sondern ihn würdig ergänzt. Oder vertreten. Aber es war keine Kopie sondern etwas NEUES.
Danke Rainer Kern! Danke Enjoy-Jazz Team.