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Die Wirklichkeit verwandeln

Eindrücke vom New Colours Festival Vol. 2

Gelsenkirchen, 17.09.2024
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Vier Tage und lange Abende verflogen bei der dritten Ausgabe des „New Colours Festival“ wie im Flug. Dazu zählen auch die vielen Begegnungen und Gespräche - denn das Festival ist auch in sozialer Hinsicht zu einem wärmenden, inspirierenden Kosmos, zu einer Insel der Kultiviertheit in nicht immer nur freundlichen Zeiten geworden. Dass sich die dritte Ausgabe wieder so anfühlte, ist auch dem Umstand zu verdanken, dass Bernd Zimmermann und Susanne Pohlen auch die atmosphärischen weichen Faktoren nie dem Zufall überlassen. Und gerade weil diesmal bewusst auf „große Namen“ verzichtet wurde, zeigte sich erneut: Die Welt der Musik ist in ständiger Bewegung und bringt stets Neues hervor. Vielfalt statt Einfalt eben.

Zurück auf die Schulbank

Am Freitagmorgen ging es zunächst mal auf die Schulbank, respektive in die gemeinsame Aula zweier Gelsenkirchener Gymnasien, wo ein eigens zusammengestelltes New-Colours-Kollektiv einen klangvollen Anschauungsunterricht vor mehreren hundert Zuhörern aus der Oberstufe veranstaltete. Erschreckend war der Befund, der sich auf Bernd Zimmermanns Nachfrage bei der Anmoderation ergab: Nicht mal ein Dutzend der jungen Leute hatte jemals zuvor ein Konzert besucht. Da fällt einem erst mal nichts mehr ein, so schnell. Also gibt es erstmal etwas zum Zuhören: routinierten modalen Jazz. Dann ergreift Keyboarder Felix Waltz die didaktische Initiative: „Improvisation im Jazz ist wie ein Referat, das man halten muss, obwohl man sich zu Hause nicht vorbereitet hat“, versucht er sich an einem lebensweltlichen Bezug. Und schon geht es an die Praxis: Die Musiker lassen sich irgendwelche Töne nennen, um dann auf dieser Zufallsskala aus dem Stegreif und beeindruckend locker zu improvisieren, was auf Anhieb das coolste Stück des ganzen Auftritts hervorbringt. Zumindest in den Ohren von Leuten, die gerne auch mal was anderes als C-Dur und Viervierteltakt zu goutieren wissen.

Der Zusammenklang aus Raum und Klang ist ein Anliegen des Festivals mit seinem kreativen Spielstätten-Mix. Und das fand wieder einmal, wortwörtlich betrachtet, auf dem Nordsternturm seinen Höhepunkt. Diesmal waren der Akkordeonist Luciano Biondini und der Sitarspieler Klaus Falschlunger angetreten, den Ort in eine außergewöhnliche Klanglandschaft zu verwandeln. Beide sind Meister ihrer Instrumente, vereinten sich im Spagat zwischen der europäischen imaginären Folklore, der sich Biondini verschrieben hat, und einer indischen Idiomatik, die bei der Sitar erstmal wesensimmanent ist. Heraus kam ein faszinierendes Geflecht aus ornamentalen Dialogen und atemberaubenden Melodien. Ein zauberhaftes Klangerlebnis ist dies allemal, vor allem im intimen Rahmen dieser Ausnahme-Location. Das Streben nach einem gemeinsamen Nenner zwischen so ungleichen Musikwelten ließ aber auch so manche etwas zu wohlgefällige Untiefe entstehen – zum Glück wurde dies durch die ansteckende, hochvirtuose Spielfreude hinreichend kompensiert fürs staunende Publikum.

Eine Farbe: Blau

Man muss dieses etwas kritische Urteil formulieren, weil ein Konzert im Musiktheater im Revier einen Tag später eine direkte Vergleichsebene bot. Der Saxofonist  Roger Hanschel macht seit vielen Jahren mit dem Ensemble String Thing gemeinsame Sache. Kerngeschäft dieser Konstellation sind faszinierende Kreationen, die vor allem in Roger Hanschel s tiefer Affinität zur indischen Musik gründen und die durrch regelmäßige Besuche auf dem indischen Subkontinent stetige Aktualisierung erfahren. Im Foyer des Musiktheater im Revier entstand eine faszinierende Balance zwischen Hanschels Saxofonspiel mit seiner unvergleichlichen Mischung aus Intensität und Dramatik und andererseits der expressiven Wucht von vereinter Violine, Viola, Cello und Kontrabass. Bei aller Instrumentenbeherrschung im Dienste einer höheren Daseinsstufe des Musizierens wird man diesen Konzertnachmittag wohl künftig immer mit der Farbe Blau in Verbindung bringen. Denn die Musiker, natürlich ebenso in Blau gekleidet, agierten vor Yves Kleins riesigem Wandrelief in diesem tiefen, satten, unvergleichlichen Blau, welches in der transparent gläsernen Architektur des MiR eine synästhetische Ausdruckskraft entfaltet.

New Colours, das Festival für Entdecker, punktete mit gleich mehreren herausragenden und künstlerisch selbstbewusst sowie extrem überraschend performenden Sängerinnen. Vor allem ist hier die Rede von Yumi Ito und deren Auftritt im Schloss Horst war die wohl stärkste Antithese zum inflationären musikalischen Fastfood seitens einschlägiger gehypter Figuren der Unterhaltungsindustrie. Yumi Ito ist einfach nur authentisch und dabei mit riesigem Potenzial gesegnet, wie sie als Reisende im transzendentalen Sinne sich selbst und den Moment verkörpert. Ihre voluminöse Altstimme füllt das Horst Schloss, allein das ist schon ein Ereignis für sich und das Schloss Horst gewährt auch genau den akustischen Raum für etwas, was eben viel Raum braucht, um sich zu entfalten. Schon das allererste Stück ist eine Reise für sich, die von folkiger, geerdeter Songlyrik über komplexe Metrenwechsel bis hin zu kleinen Jazzopern reicht. Ihre verspielten Scat-Passagen schaffen Raum, damit sich die Band entfalten kann – das sind, von ihr abgesehen, über weite Strecken nur Bass und Schlagzeug, eben weil diese Alt-Stimme so raumfüllend ist. Auch das wirkt sensationell. Wenn sie dann Klavier spielt, macht sie es so, wie sie singt: unverzagt, draufgängerisch und direkt. Man möchte tiefer in diese Welt eindringen. Die beiden neuen CDs von ihr liefen dann auch pausenlos im Auto auf den vielen Fahrten zu den Konzertlocations. Als ebenso adäquater Raum erwies sich das „Wohnzimmer des New Colours Festival“ für einen fulminanten Auftritt des Flamencojazz-Trios um den Bassisten Pablo Caminero, dessen Bühnenpräsenz auch an Humor nicht entbehrte. Vor allem vor der Zugabe, wo er per Handy-Lifeschaltung mal eben das ganze Publikum animierte, einem guten Freund zum Geburtsttag zu gratulieren.

Die Lichtburg in Gelsenkirchen, mit ihrem gediegenen Ambiente aus edlen Hölzern, eleganter Sitzbestuhlung und funktionaler Architektur, ist ein weiteres, meist verkanntes architektonisches Kleinod in der Ruhrgebietsstadt. Und eigentlich ist auch dieser Raum viel zu schade, um hier ausschließlich Mainstream-Kinos zu zeigen. Deswegen gab es hier am strahlend sonnigen vierten Festivaltag  ein beeindruckendes Kontrastprogramm, welches auch das Auge verwöhnte: Auf der Kinoleinwand wabern und mutieren hypnotisierende, kreisrunde Strukturen. Diese Visuals, geschaffen von Franziska Götzen, der Schwester des Bassisten Moritz Götzen, erinnerten an die archaischen Ölscheiben-Projektoren, mit denen Tangerine Dream, Faust oder die frühen Pink Floyd ihre halluzinatorischen Shows bewusstseinserweiternd aufmotzten. Sowas half beim New Colours Festival der Kölner Band Foxl, auch musikalisch auf solche Pfade abzuheben. Drei Gitarristen sorgten für abwechslungsreiche Texturen, unterstützt von Synthesizern und stoischem Schlagzeug-Puls. Manchmal war das Ganze etwas zu gezähmt, mit etwas zu viel Melodie, wo die repetitive Struktur und Mutation des Sounds alles gewesen wären. Dass die Kölner dies auch meisterhaft beherrschen, bewies die letzte Nummer – im Idealfall sollten sie vielleicht mal während eines ganzen Konzerts nur dieses Stück spielen - das hier mal nur als Anregung.

Fantasie stimulieren

Reiten wir noch etwas weiter auf dem Wort „synästhetisch“ herum, denn dafür gab es einen weiteren Anlass auf dem New Colours Festival, respektive im Kunstraum Norten im Gelsenkirchener Arbeter-Stadtteil Scholven. Ashia Grzesik, heute in Berlin lebend, entfaltete hier unter ihremKünstlernamen Bison Rouge eine Aura, die fast nicht mehr von dieser Welt war. Die Kombination aus Gesang, farbigem Licht, eindringlichem Cellospiel und elektronischen Sounds drang tief in alle Sinne ein. Wie eine Zeremonienmeisterin durchschritt sie den Raum singend und suchte sogar die physische Berührung, indem sie sanft die Stirn der in der ersten Reihe Sitzenden berührte. Und auch unter souveräner Beherrschung aller musikalischen Mittel offenbarte sie ihren Wesenskern als mystische Geschichtenerzählerin, von denen eine auch etwas verstörend von einer eigenwilligen Todesgöttin handelt. Ashia Grzesik machte selbst aus ihren Anliegen keinen Hehl, als sie von „Katharsis“ sprach. Auf jeden Fall war alles getragen von einer sehr eigenwilligen Musikalität, die aber alle Freiheiten von Ausdruck und Klang auskostete und damit die Fantasie mächtig stimulierte. War der Ort, an dem so etwas über das andächtige Publikum kam, wirklich früher mal eine Coop-Filiala, also ein banaler Einkaufsort?  

Zum Finale des Festivals zog Gelsenkirchen als Standort spektakulärer Bauten nochmal alle Register. Das Interieur der Heiligkreuzkirche mutet im proletarischen Stadtteil Ückendorf schon fast surreal an - mit seinen elliptischen Bögen und Dimensionen, in denen Fritz Lang problemlos einen Science Fiction Stummfilm hätte drehen können. (Der Architekturhistoriker redet hier vom Backstein-Expressionismus.) Nach vier Tagen ästhetischer Bewusstseinserweiterung durfte an diesem Ort gefeiert werden und dafür war nochmal auf zwei begnadete Performerinnen Verlass: Nämlich auf Maja Fadeeva und Anna Luca , die beide den Club des Belugas, jene dancefloortaugliche Kultband unter Roman Babik s Federführung, bereicherten. Fadeeva wärmte die Seelen mit ihrer deepen Soul-Stimme, ihrer Ausdrucksstärke und einem umwerfenden Charme. Davon ließ sich Anna Luca aber keineswegs die Show stehlen, die ebenfalls eine energetische, eindringliche Show bot - auch mit Songs voller flammendem Appelle an die Zukunft unserer Menschheit. Die Band sorgte dafür, dass alles dancefloortauglich, funky und mit vielen Saxofonsoli bestens aufbereitet wurde, um etwa 400 Menschen erfolgreich in Verzückung zu versetzen.

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