Nacht der tausend Möglichkeiten
Ein Streifzug durch die Night of Surprise
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Kristina Zalesskaya, Stefan Pieper
Ein langer Abend, 22 Konzerte, vier Spielstätten: Die zehnte Ausgabe der Night of Surprise hat in Köln gezeigt, was passiert, wenn experimentelle Musik radikal zugänglich gemacht wird. Von György Kurtágs Kafka-Fragmenten in der Christuskirche bis zu queerer Clubkultur im Keller-Club Jaki versammelte das Festival unter Kuratierung von Thomas Gläßer eine bunte Mischung aus Musikexperten und Neugierigen aus vielen Generationen und Szenen. Die Rechnung des freien Eintritts ging wieder mal auf: Musikrichtungen, die im Stadtgarten und anderswo sonst kaum 35 Leute erreichen, füllten plötzlich den Saal bis auf den letzten Platz.
Das Anliegen der Night of Surprise, die im Jahr 2014 aus der Taufe gehoben wurde, ist geblieben – die Veranstaltung wirkte bei ihrer zehnten Ausgabe noch diverser, ja, auf gewisse Weise auch „erwachsener" geworden. Das Anliegen ist geblieben: Es geht darum, Abgrenzungen aufzulösen und Milieus zu durchmischen – oder wie es Thomas Gläßer im langen Zoom-Gespräch zwei Tage nach dem Festival formulierte – „Energien zu verflüssigen".
Kurz nach 16 Uhr, in der Christuskirche am Dorothee-Sölle-Platz in unmittelbarer Nähe zum Stadtgarten: Keine Kartenkontrolle. Einfach reingehen. Der belgische Musiker Lukas De Clerck bespielt ein merkwürdiges, aus zwei Rohren bestehendes Instrument. Es ist ein rekonstruiertes antik-griechisches Aulos, aber de Clerck hat daraus ein „telescopic aulos" weiterentwickelt. Das bietet technische Voraussetzungen, um über jede “historische Aufführungspraxis” hinaus zu wachsen. De Clerck presst durch Zirkularatmung Luft durch zwei Rohrblätter, erzeugt Multiphonics und Schwebungen. Ein endloser, sich auch in der Höhe sowie in seinen mannigfaltigen Überlagerungen verändernder Ton füllt den Kirchenraum, der selbst so etwas wie ein Instrument wird in diesem Moment. Ein Instrument, das älter ist als das Christentum klingt wie aus der Zukunft und man fragt sich, wie der Belgier überhaupt alle anatomische Grenzen in Sachen Luft und Atemkontrolle scheinbar mühelos überwindet. Ebenfalls beeindruckend: Fast niemand verlässt vorzeitig den Raum. Wohlgemerkt von Menschen, die vorher so etwas noch nie gehört haben, was gerade wohl auf alle Anwesenden zutrifft.
Die Christuskirche als Bereicherung
Die neue Ergänzung der Night of Surprise durch die dem Stadtgarten benachbarte Christuskirche hebt die Veranstaltung auf ein neues Level. Direkt nach De Clerck spielen hier Madison Greenstone und John McCowen mit zwei Kontrabassklarinetten eine hoch verfeinerte mikroskopische Musik. Multiphonics, Differenztöne – akustische Phantome, die entstehen, wenn zwei Frequenzen so nah beieinander liegen, dass das Ohr eine dritte wahrnimmt. Auch hier wurde „die Einladung, das Hören feiner einzustellen" begeistert angenommen, zog Kurator Thomas Gläßer hinterher Bilanz.
Das Bedürfnis, sich zu öffnen und „sich auch mal in Unerhörtes hineinzuzoomen" ist also scheinbar doch ausgeprägter, als es der Mainstream mit seinen rigiden Konditionierungen vorsieht. Und da war es längst überfällig auch, die sogenannte Neue Musik (mit großem Anfangsbuchstaben) in ein solches Gegenwartsfestival einzubeziehen. Vor allem, wenn dies Darbietungen auf Weltklasse-Niveau, die sich auch in Witten oder Donaueschingen sehen lassen könnten, hervorbringt: Die französische Sopranistin Donatienne Michel-Dansac und der russische Geiger Igor Semenoff nahmen sich György Kurtágs Kafka-Fragmenten an – 40 Miniaturen aus Franz Kafkas Tagebüchern und Briefen. Michel-Dansac bewegt sich an der Grenze zum Sprechgesang, ihre Stimme springt von tiefen Tönen plötzlich in hohe Register. Semenoff antwortet mit einer Geige, die alles kann außer konventionell klingen. Man sitzt in einem Kammertheater ohne Worte. Die Raumfülle, die eine einzige Violine in der Christuskirche entwickelt, ist bemerkenswert, die Energie von Donatienne Michel-Dansac sowieso. Nach 50 Minuten endet der Zyklus mit einem leisen, fragilen Ton. Das hier ist keine Nischenkultur, sondern Hochkultur in Reinform.
Die Kirche blieb danach ein gleichberechtigter Akteur – vor allem, als der norwegische Gitarrist Stian Westerhus mit dem Videokünstler Frieder Weiss die Sinne betörte. Vier Verstärker – zwei Gitarren-Amps, zwei Bass-Amps – erzeugen eine organische Wucht, das kennen und schätzen wir von diesem kraftvollen Saitenartisten, der einst bei Nils Petter Molvaer spielte und heute vielfältig auf eigenen Pfaden wandelt. Die eigentliche Überraschung aber ist der lyrische, oft zerbrechliche Gesang, der ein eigenes Aroma entstehen lässt, was oft auch wie ein Suchen in einem noch offenen Prozess anmutet, aber immer wieder in diese überwältigenden Klang-Kommentare aus Westerhus' Gitarren-Instrumentarium mündet. Und wo die aufsteigenden Farbstrukturen der Video- und Farbregie auf synästhetischer Ebene visuell weitermachen.
Räumliche Intellligenz
Bei der Programmierung der insgesamt 22 Konzerte dieses langen Abends ließ sich Thomas Gläßer diesmal von den zahllosen Artists, die hier schon in der Vergangenheit präsentiert wurden, inspirieren – das trieb nochmal die Materialdichte auf die Spitze, aus der es auszuwählen galt. Mit dieser ganzen disparen Fülle zeitgleich die Christuskirche, den Stadtgarten-Saal, das Café und den Keller-Club Jaki zu bespielen, stellt große Anforderungen an die „räumliche Intelligenz".
Wer dran partizipiert, weiß nicht, welche Atmosphäre als Nächstes wartet. Aber da gibt es das starke Versprechen, dass es nicht beliebig sein wird. Im abgedunkelten Stadtgarten-Saal lieferte Florentin Ginot vom Ensemble Musikfabrik eine Uraufführung in elektronisch erweitertem Setup – Kontrabass mit Live-Elektronik und Drumcomputer, was eine Textur aus überlagerten Basstönen plus Drumcomputer freisetzt. Das klingt nach Dub, nach Drone, nach zeitgenössischer Komposition, nach Clubmusik – und nach nichts davon. Genau das ist der Punkt: Diese Musik passt in keine Schublade und braucht daher einen Raum, der nicht vordefiniert, was man zu hören bekommt.
Der Groove wurde zum kreativ beunruhigenden Störfaktor, als später die Band Horse Lords aus Baltimore zusammen mit Arnold Dreyblatt den Stadtgarten-Saal bespielten. Polyrhythmische Strukturen treiben Tonfolgen in Intervallen vor sich her, die für westliche Ohren „falsch" klingen. Dreyblatt, Schüler des Minimal-Music-Grundlagenforschers La Monte Young, haben es in dieser Konstellation vor allem die präparierten Saiteninstrumente angetan – die Kombination in Köln überrascht vor allem durch ihre physische Wucht, die in ihrer polternden, polymetrischen Schwingung manchmal an Krautrock erinnert. Viele Menschen wippen im Takt – oder in einem der vielen Takte, die hier gleichzeitig laufen. Der Abend hatte zu diesem Zeitpunkt längst eine neue Richtung eingeschlagen. Von neutönerischer Kontemplation in der Kirche zu physischer Intensität eines Festivals zum Eintauchen und Abfeiern. Und beides präsentierte die unterschiedlichen Pole einer „neuen" Musik.
Im gut gefüllten Café tanzen Leute. Zu Jazz, während andere auf dem Fußboden abhängen. Das Trio Oùat – Simon Sieger am Klavier, Joel Grip am Bass, Michael Griener am Schlagzeug – spielt genau das: noch akustischen, von atemlosen Neopop-Schwingungen und Monk-Klavierclustern aufgeheizten Jazz im besten Sinne, der auch aus den 1960er Jahren stammen könnte – und der viel darüber aussagt, warum Jazz eigentlich eine Körpermusik ist, die eben aus dem Club und nicht aus der Musikhochschule stammt. Auch das hat viel mit jenem „Ringen um Lebendigkeit" zu tun, wie Thomas Gläßer sein kulturelles Anliegen verstanden wissen will.
Schade, dass der Auftritt der Band Placebo Domingo geschwänzt werden musste, der formidabel gewesen sein soll – aber das liegt nun mal in der Natur von Parallelveranstaltungen. Für die Zukunft denkt Gläßer schon darüber nach, den Rahmen dieses Festivals zeitlich und räumlich auszuweiten. Immerhin bekommen sämtliche Konzert-Sets genug Zeit, um sich lebendig vorm Publikum zu entfalten.
Clubkultur in der Unterwelt
Auch in der Unterwelt, also in der Club-Bühne im Jaki war es nicht leise, sondern prall gefüllt, dunkel und schweißig. Ideale Bedingungen für neue Klänge aus der elektronischen Subkultur, etwa für ein Set von Andras 2020 – einem brasilianischen Multitalent in Sachen Vocals, Tanzperformance und auch Musikproduktion. Andras 2020 sucht das Bad in der Menge und wird für alles Aufgebotene zu Recht gefeiert, vor allem für eine dekonstruierte Clubmusik mit schrillen Pop-Einflüssen und krass gebrochenen Rhythmen, ebenso starken Vocals. Alles live und in Echtzeit! Andras bewegt sich durch die Menge, tanzt, berührt Leute. Der Körper als Medium und politische Aussage. Das ist queere Clubkultur at its best.
Dieser Auftritt sowie gleich eine ganze Serie kompromisslos experimenteller DJ-Sets bis in den frühen Morgen waren immer nochTeil desselben Festivals, das vier Stunden zuvor Kurtágs Kafka-Fragmente in einer Kirche präsentiert hat. Die Bandbreite an einem Abend maximal auszudehnen, ist keine Beliebigkeit. Sie ist ein Statement darüber, was zeitgenössische Musik sein kann. Die Night of Surprise liefert hierfür einen notwendigen Rahmen, damit Menschen aus vielen Altersgruppen einfach mal unbeschwert neugierig sein dürfen.
























































