Die Gegenwart des Jazz lebt
Jazz an einem Sommerabend 2014
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Es ist die unermüdliche, an Selbstausbeutung grenzende Arbeit einer großen Schaar Ehrenamtlicher, aber auch die nachhaltige Entwicklung eines verständigen Publikums, was die Erfolgsgeschichte des Krefelder Jazzclubs begründet. Belohnt wird all dies vor allem durch das Festival „Jazz an einem Sommerabend“ auf der mittelalterlichen Burg Linn. Und da stimmte einfach alles zum dreißigsten Geburtstag dieses Ereignisses!
Es war wirklich ein „echter“ warmer Sommerabend vor der traumhaften Burgkulisse. Diese Szenerie mutet innerhalb der etwas monotonen Vorstadtlandschaft Krefelds ja fast schon surreal an. Aber diese Burg bietet ihren Besuchern viel geborgene Zuflucht vor jeder Alltags- und Anreisehektik!
Gerne immer wieder nach hier kommt Louis Sclavis. Er eröffnete diesen großen Abend noch bei Tageslicht. In seinem aktuellen Atlas-Trio begegnet er Musikern einer jüngeren Generation – und der Jahrhundertklarinettist aus Frankreich bringt sein expressives Spiel in aufregende neue Konstellationen, vor allem mit elektrischen Klängen.
Man erlebte in dieser Besetzung die typischen Qualitäten der ureigenen melodischen Sprache des Franzosen: beschwörende, oft archaisch anmutende Melodien, die als ostinato-Strukturen einen starken roten Faden in den Stücken und Improvisationen ausbilden. Beim Konzert im Angesicht der alten Burg vereinten sich die Stücke zu einem suitenartigen Ganzen. Aber man musste erstmals richtig einsteigen in diese ganze Ausdrucksstiefe. Das Sclavis-Konzert gleich als Opener war schon eine wirkliche Herausforderung für den Hörer!
Aber das Publikum hier kann so etwas vertragen. Es braucht keine „Schonung“ durch seichtes – denn es ist sensibilisiert, hat offene Ohren. So viel war in jedem Moment auf der Wiese vor der Bühne spürbar!
In Köln lebt der Bassist Robert Landfermann – und der agiert nicht nur als Solist, Partner oder Sideman, sondern auch immer mehr als Initiator von aufregenden größeren Projekten.
Da feiert sein neues Quintett auf der Burg Linn seine unmittelbare Geburtsstunde. Und zwischen Landfermann am Bass sowie Christian Weidner (sax) Sebastian Gille (Tenorsax), Elias Stemeseder (Piano) sowie dem New Yorker Jim Black am Schlagzeug ein tiefgehender Diskurs über große Ideen - genährt vom Geist der Neuer Musik, von Folk-Aspekten und Freejazz-Radikalität oder auch atmosphärisch angelegter ECM-Klangästhetik. Nicht umsonst widmete Landfermann das letzte Stück dieses Sets dem legendären Paul Motian. Und diese Truppe weiß dafür so sorgen, dass alles sinnlich bleibt - und dass es swingt. Dass hier Jazz aus der Gegenwart entspringt und dass er sich in seinen Randbereichen am aufregendsten zeigt. Und dass er wild wuchern muss.
Nervöse Momente waren bei den Veranstaltern aufgekommen, als das David Virelles Trio kurzfristig absagten. Aber man ist in Krefeld nach dreißig Jahren so gut vernetzt, dass schnell „Ersatz“ beschafft werden konnte – und was für einer: Colin Vallon konnte es dann selbst kaum fassen, was dieser Ort für eine Aura entfaltet - als er alleine vor diesem Publikum am Flügel spielte. Über weite Strecken atmete Vallons Spiel eine tiefe Ruhe, vereinten sich unter seinen Händen minimalistische Melodiefragmente zu Texturen. Die können mal spielzeughaft fragil, dann wieder bedrängend motorisch sein. Und als diese kontemplative Reise schließlich ihr Ziel erreicht hatte, schlug genau in dem Moment die Glocke der Burgkirche. „Das ist Schweizerische Pünktlichkeit“ - so Vallons Kommentar.
Also wurde dieser Sommerabend zu einem kleinen Klavierfestival. Denn mit Michael Wollny bot zum Finale eine sehr gegensätzliche pianistische Handschrift auf - sozusagen die extrovertierte Antithese zur lyrischen Verinnerlichung, wie sie zuvor der Schweizer zelebriert hatte! Wollny hat sich jüngst mit dem norwegischen Saxofonisten Marius Neset zusammen getan. Und dieser wohl prominenteste deutsche Jazzpianist der jüngeren Generation sprühte dermaßen vor Hyperaktivität und impulsiver Kraft, dass er das Saxofonspiel seines norwegischen Partners fast schon zu überholen drohte. Mit Händen und Füßen setzt Wollny auf maximalen Abgehfaktor, improvisiert über Rockriffs, Zwölftonskalen und vielem mehr. Und Wollny wäre nicht Wollny, wenn er nicht immer wieder klarstellt, dass er auch in jedem Moment anders kann. Etwa, wenn er das Temperament schlagartig zurücknimmt, sich der Stille annähert - um darauf den nächsten Geniestreich in fast schon beängstigender Manier aufzutürmen!
All dies geriet in einen intensiven spielerischen Austausch mit Marius Neset, der auf seinem Saxofon zum Pendant bei sämtlichen Klangforschungs-Abenteuern wurde.
Wollny lobte schließlich dieses Publikum, dass es nach vier derart konzentrierten Konzerten immer noch so aufnahmefähig war. Nein, selbstverständlich ist so etwas nicht!
Worüber in Krefeld hinter den Kulissen gesprochen wurde, gibt es in Kürze unter der Rubrik Jazzreports zu lesen.