Die ganze Bandbreite der Möglichkeiten
Lange Streicher-Nacht im Jazzclub Hürth
TEXT: Dr. Michael Vogt | FOTO: Jazzclub Hürth
Kaum einer denkt beim Wort Jazz an Streichinstrumente. Dabei spielte gerade die Geige eine zentrale Rolle in der Jazz-Geschichte. Grund genug für den Jazzclub Hürth, unter dem Motto «Jazz for Strings» den Blick auf Geige, Bratsche, Cello & Co. zu lenken. Den Streicher-Schwerpunkt der Saison 2020 eröffnete am Wochenende die «Lange Nacht des Streicher-Jazz» mit drei Duos.
Bandbreite akkordischer und perkussiver KlangmöglichkeitenDen Anfang des dreiteiligen Konzerts machte das «Tiedemann Plate Duo» aus Gunther Tiedemann (Violoncello) und David Plate (Gitarre). Seit 2002 spielt das Ensemble eigene Kompositionen, die sich im Spannungsfeld von Latin, Funk, Pop und Folk bewegen. Erstaunlich war die Bandbreite an akkordischen und perkussiven Klängen, die Tiedemann durch verschiedene Zupf- und Streich-Techniken seinem Instrument entlockte. Immer wieder schlüpfte er in die Bass-Rolle und griff dazu auch schon einmal zu einem Eggshaker, um eine zusätzliche Rhythmuskomponente in sein gezupftes Spiel einzubringen. Die beiden Instrumentalisten entführten das Publikum mit hüftschwingender Geschmeidigkeit nach Südamerika, wandelten in den Fußspuren des kürzlich verstorbenen Lyle David Mays und orientierten sich an der Musik Pixinguinhas, dessen Bedeutung der Musikwissenschaftler Ary Vasconcelos mit den Worten zusammenfasste: „Fünfzehn Bände reichen nicht aus, um die Vielfalt der brasilianischen Musik zu beschreiben. Hast du aber nur Platz für ein Wort, so ist nichts verloren. Schreib einfach Pixinguinha.”
Fulminante Auseinandersetzung mit Telemann
Den zweiten Programmteil gestaltete der bekannte Brühler Geiger und Bratschist Sebastian Claude Reimann, der als Mit-Initiator der Reihe «Jazz for Strings» das Programm der Reihe zusammen mit den Machern des Jazzclubs entwickelt hatte. Im Duo mit seiner ehemaligen Schülerin
Julia Brüssel
(Geige), die ihre Leidenschaft für klassische Musik mit einem großen Interesse an Improvisation und unterschiedlichen musikalischen Stilen verbindet, zeigte Reimann einen geradezu kammermusikalischen Ansatz. In bewusst transparent gehaltenen, polyfonen Arrangements huldigten die beiden Musiker dem großen Vorbild Grappelli, indem sie den Jazz-Standard «Cheek to Cheek» (Irving Berlin) differenziert beleuchteten. Jeweils zweistimmig spielend entfalteten sie in Oliver Nelsons «Stolen Moments» die klangliche Vielfalt einer ganzen Bigband. Auch Musik des französischen Fusion-Geigers Jean Luc Ponty erklang – klanglich durchaus gezähmt – in einem klassischen Ansatz, der auch in einer fulminanten Auseinandersetzung mit Georg Philipp Telemanns barocker Musiksprache zum Tragen kam. Und der Standard «Caravan» erklang ganz auf seine musikalische Substanz reduziert frisch und neu.
Gedicht-Vertonung
Im Anschluss wechselte Reimann den musikalischen Partner, um mit dem Gitarristen Georg Dybowski in Stücken wie «Café noir» (Dybowski) lateinamerikanische Impressionen wachzurufen. Mit „Don Leonardo“ zeigte sich Reimann als Komponist und tauchte in die Welt des argentinischen «Vals criollo», der französische Musette-Einflüsse und das Erbe des Wiener Walzers zu einem genuin südamerikanischen Tanz verschmilzt. Literarisch ging es bei der Gedicht-Vertonung «Die Vase» zu, ein wenig Retro-Flair klang spannungsreich in Stücken wie «Blues für Jens» und «Dr. Groove» an. Das Publikum war von der Mischung restlos begeistert und wurde für den anhaltenden Applaus von allen Musikern des Abends belohnt, die für zwei Zugaben noch einmal vollzählig die Bühne betraten.
Dank an das treue Publikum
Günter Reiners, Vorsitzender des Jazzclubs, freute sich über den Erfolg des Konzerts: „Als gemeinnütziger Verein, der sich für Kultur engagiert, muss man auch einmal ein Experiment wagen“, unterstrich er nach der Veranstaltung. „Der Jazzclub möchte in dieser Saison mit seinem Streicher-Schwerpunkt zeigen, wie unterschiedlich und vielfältig Jazz sein kann. Dass trotz der angespannten Stimmung aufgrund des Corona-Virus und großer Konkurrenz durch Fußball & Co. Neugierige und Musikkenner in unseren gemütlichen Jazzkeller gekommen sind, zeigt uns, dass unser Ansatz angenommen wird. Ich bedanke mich ganz herzlich bei unserem treuen Publikum und bei Sebastian Reimann, ohne den die künstlerische Planung dieses Schwerpunktes nicht möglich gewesen wäre. Und natürlich weise ich auf das nächste Konzert-Highlight hin. Das findet am 20. März mit dem Konzert von «natures dream» im Jazzkeller statt – diesmal ohne Geige, dafür aber in jedem Fall lohnend!“