Bild für Beitrag: Die Fülle der Stille | Jonny Greenwoods
Bild für Beitrag: Die Fülle der Stille | Jonny Greenwoods
Bild für Beitrag: Die Fülle der Stille | Jonny Greenwoods
Bild für Beitrag: Die Fülle der Stille | Jonny Greenwoods

Die Fülle der Stille

Jonny Greenwoods "24 Years of Reverb" bei der Ruhrtriennale

Essen, 28.08.2025
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Dennis Zimmermann, Stefan Pieper

Acht Stunden lang erklang ein einziger Orgelton im Essener Bergmannsdom in Katernberg – Jonny Greenwoods 24 Years of Reverb kann schon jetzt als eines der außergewöhnlichsten Konzerte der diesjährigen Ruhrtriennale bezeichnet werden.

Ist das tatsächlich nur ein einzelner Ton? Der sogar dazu verführt, vom Bewusstsein in den Hintergrund abgedrängt zu werden angesichts der vielen Wahrnehmungen in der räumlichen und akustischen Umgebung, die vor allem beim ersten Besuch dieses Dauerkonzerts von Unruhe getragen ist. Aber darum geht es nicht, denn wer den stationären Ton als Cage'schen Leerraum missversteht, befindet sich eindeutig auf dem Holzweg. Die minimalistische Komposition nach dem Konzept von Jonny Greenwood, dem Gitarristen der Kulturbands „Radiohead“ und „The Smile“, wuchert unter der stationären Oberfläche umso komplexer, als dass hier nur von konzeptueller Stille die Rede sein kann.

Vielmehr öffnet sich in der historischen Wilhelm-Sauer-Orgel des Bergmannsdoms ein Kosmos subtiler Prozesse, ein clusterhaftes Gewebe aus Frequenzen, die von Luftsäulen und Orgelpfeifen so subtil und reichlich erzeugt werden, dass ihre inneren Veränderungen einer assoziativen Reise ohne Anfang und Ende immer weiter Nahrung geben. Ob diese Veränderungen immer tatsächlich akustisch stattfinden oder eben nur im eigenen Kopf, das ist ein zusätzlich reizvoller Aspekt jener Vagheit, die allein durch die Ausdehnung der Zeitmaße ins Grenzenlose möglich geworden ist.

Produktive Vagheit

Das Stationäre erweist sich als Illusion. James McVinnie und Eliza McCarthy, die beiden Organist:innen, die sich über die acht Stunden abwechseln, entfalten in einer extremen Dauerzeitlupe das gesamte Frequenzspektrum des monumentalen Instruments – laut Programmheft haben hier Prinzipien der südindischen Karnatik Pate gestanden: langsam, schwebend und schichtweise. Mal kommt ein Ton hinzu, eröffnet ein anderes Bezugsfeld. Die Dehnung des eigenen Zeiterlebens führt zu immer neuen Definitionen dieser eigenartigen Musik, die eben zugleich im Raum und im eigenen Kopf entsteht.

Verändernde Parameter sind nicht nur die Klänge an sich, sondern ebenso das subjektive Hineinversenken, woraus dieses Konzert einen ungeahnten interaktiven Freiraum bekommt. Das Fokussieren auf einen bestimmten Ton als Referenzpunkt kommt einem Perspektivwechsel gleich. Und auch das ständige Kommen und Gehen der Konzertbesucher:innen wird Teil der Komposition – ein konkretes Geschehen im Gefäß dieses 1901 erbauten "Bergmannsdoms" voller Hall, Geschichte und Licht. In jeder Ecke des Raumes sind Ordner:innen positioniert, die das Geschehen observieren – warum auch immer.

Ein zweiter Besuch, Stunden später. Jetzt ist alles anders. Liegt es an der eigenen Wahrnehmung durch einen anderen Zeitpunkt am Tag? Aber tatsächlich ist die Stimmung jetzt deutlich versunkener und es liegen sogar zwei Menschen auf dem Boden. Annäherung an die Ewigkeit? Es hat etwas Reizvolles, wenn Kultur- oder Konzertereignisse mehr Fragen aufwerfen, als vorgefertigte Antworten zu liefern.

Ruhrtriennale im Spannungsfeld

Wir sind bei der Ruhrtriennale, diesem Großevent, das es immer wieder hinbekommt, der künstlerischen Gegenwart auch große Publikumsmengen erfolgreich zuzuführen. Zugegebenermaßen verbiegt sich dieses alljährliche Ereignis mit diversen Produktionen immer mehr in bedenkliche Richtungen einer bemüht wirkenden Massenkompatibilität, aber darüber muss hier nicht geredet werden, wo sich in einer Kirche im Essener Norden eine Veranstaltung auf Pfade off the beaten track hinauswagte. Greenwoods Meditation im Bergmannsdom bewies immerhin, dass experimentelle Musik dann am stärksten wirkt, wenn sie scheinbare Einfachheit als das entlarvt, was sie ist: Eine Einladung zur intensivsten Form des Zuhörens.



Bild für Beitrag: Die Fülle der Stille | Jonny Greenwoods
Bild für Beitrag: Die Fülle der Stille | Jonny Greenwoods
Suche