Die Erde ist (k)eine Scheibe
Jazz an einem Sommerabend auf der Burg Linn
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Magisch ist das Ambiente zur blauen Stunde vor der Burg Linn. Und diesmal blieb sogar der fast schon „obligatorische“ Regenguss während des Topacts aus.
Ist die Erde vielleicht doch eine Scheibe? Mehrere Hunderttausend Menschen gehören tatsächlich einer Glaubensgemeinschaft an, die sich für dieses alternative Weltbild starkmacht. Man muss wohl nicht annehmen, dass das Krefelder Publikum beim Jazz an einem Sommerabend in dieser Hinsicht reihenweise „bekehrt“ wurde – wohl aber hatte das belgische „Flat Earth Society Orchestra“ so ziemlich jedes konventionelle musikalische Weltbild von einer großen Jazzcombo oder gar „Bigband“ durcheinander gewirbelt. Der Blick über die nahen Ländergrenzen offenbart nun doch immer wieder erfrischendes Neuland...
Mit der subversiven Wucht eines Gangsterfilm-Soundtracks, mit anspielungsreichen Collagen aus Polka, Tango, Filmmusik, Freejazz und machmal auch Klassik-Zitaten ließ die belgische Truppe instrumental und klanglich keinen Stein auf dem anderen. Und auch die Texte von Peter Vermeersch, der regelmäßig als Rezitator in Erscheinung trat, haben es in sich, wenn sie satirisch mit der heutigen Verblödungsgesellschaft ins Gericht gehen. Damit ist den Programmmachern in Krefeld mal wieder ein erfrischender Griff gelungen! Die illustre Truppe aus Belgien eröffnete die diesjährige Festivalausgabe, aber hätte eigentlich einen „zentraleren“ Platz in der dreiteiligen Programm-Dramaturgie verdient gehabt. Denn die Belgier hatten mit dieser subtil-intelligenten Performance künstlerisch definitiv am meisten zu sagen.
Den Programmplanern bei Jazz an einem Sommerabend war dieser sensible Aspekt sehr wohl bewusst, es war allein eine praktisch-organistorische Notwendigkeit.
Nach dieser kreativen Heimsuchung für Sinne und Geist, wirkte der Auftritt des “Jakob Manz Projects“ dann etwas arg steril, zumindest an einem Ort wie Krefeld, wo es nun doch etwas anders als etwa in Leverkusen zugeht. Die vier, vor allem Saxofonist Jakob Manz, beherrschen ihre Instrumente perfekt und alles geht maximal professionell vonstatten. Manz soliert auf dem Altsax fast ohne Pause, hochvirtuos und mit fokussiertem Sound. Die Band antwortet darauf mit ordentlich Druck und ausgefeilter Raffinesse. Das Kalkül ging auf, dass manche vor der Burg auch das Tanzbein schwangen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Eine Überraschung gab es zum Schluss: Sehr spannend improvisierte schließlich Jakob Manz bei der Zugabe auf einer speziell konstruierten Jazz-Blockflöte.
Vijay Iyer, der amerikanische Pianist mit indischen Wurzeln, hat nun schon nach kurzer Zeit wieder ein neues Trio aus dem Hut gezaubert. Mit lässiger Reife strebte dies auf der Bühne vor der Burg Linn nach Gleichberechtigung. Zu Beginn türmt sich eine mächtige Welle aus typischem „ECM-Klang“ auf, dann gibt es kein Entrinnen mehr aus schier unerbittlicher, treibender Präzision. Vijay Iyer modelliert vollgriffig und mit lässiger Erfindungskraft den Spielfluss. Schlagzeuger Jeremy Dutton ist offensiv, meist Note gegen Note an jeder Regung dran. Ohne Bassist Matt Brewer als straffem Bindeglied würde alles sofort auseinander fallen. Aber hier fällt nichts auseinander. Stattdessen narkotisiert diese komprierte Wucht und typisch amerikanische Überlegenheit im Zusammenspiel. Vijay Iyers Eigenkompositionen, aber auch Themen von Gerry Allen oder Stevie Wonder speisten zuweilen als „Aufhänger“ die unerbittliche Mechanik und führten dabei so manch erstaunlichen Farbwechsel herbei. Allerdings: Über weite Strecken wirkte das Spiel der drei dennoch so, als hätten sie sich wie auf einer einmal eingeschlagenen Umlaufbahn allzu sehr „festgefahren.“