DER FREITAG BEIM NEW COLOURS FESTIVAL
Eine Nachlese von Peter E. Rytz
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Peter E. Rytz
New Colours Festival zum Zweiten. Mehr als 1.300 kamen an den vier Tagen zu höchst unterschiedlichen Konzerten. Unterschiedlich in den von den Musikern verfolgten Sound-Perspektiven, gleichwohl von Susanne Pohlen und Bernd Zimmermann als überzeugte Ruhrpott-Menschen mit Sorgfalt hinsichtlich Klang malender Vielfarbigkeit ausgewählt.
Ein überregionales Alleinstellungsmerkmal, mit dem dieses Festival wuchert, sind die Orte. Ehemalige Industrieorte, eine Kirche, ein Schloss, ein Musiktheater und ein soziokulturelles Begegnungszentrum sind eine durchaus ungewöhnliche Spielstätten-Mixtur. Eine mit Charakter, der für diese Region zentral ist.
Musikalische Vielfalt zusammen mit Spielorten, die mit ihrer Architektur, der Akustik und dem Platzangebot nicht gegensätzlicher sein könnten, verdichten sich mit den Konzerten von Matthias Loibner & Lucas Niggli im Nordsternturm und von Maxime Bender’s Infinity of Sound im Schloss Horst in Gelsenkirchen wie in einem Brennglas. Kaum mehr Platz als für 50 Zuhörer im Nordsternturm (in der 11.Etage!) im unmittelbaren Kontakt mit der ehemaligen industriellen Nutzungsstruktur. Dagegen ein fünffaches Platzangebot im Schloss, einem der ältesten Renaissancebauten in Westfalen, heute als Kulturzentrum und Standesamt der Stadt Gelsenkirchen genutzt, leuchtet es als Stern des New Colours Festivals im Abendlicht.
Matthias Loibner, der schon vor Jahrzehnten über das Klavier, die Gitarre und die Posaune zur Drehleier (Hurdy Gurdy) gekommen ist, versteht sich nicht in erster Linie als Musiker. Er sei, so seine Selbstbeschreibung, vor allem ein aufmerksamer Beobachter menschlicher Stimmungen und Gefühle. Zusammen mit Lucas Niggli (perc), der als Musiker im Grenzbereich von improvisierter und komponierter Musik zuhause ist, laden sie klangmalend zu einer Reise vom Mittelalter bis in die Gegenwart ein.
Percussive Sound weights
Den seltsam schönen, surrenden, knarrenden Klang der Drehleier mischt Niggli perkussive Klangschichten (Percussive sound weights) unter. Sie kreieren imaginative Klangwelten. Im Dialog gestalten sie improvisierte Klangräume, die keine dogmatischen Grenzen kennen. Virtuos und opulent, ja mitunter geradezu anarchistisch entwickelt sich eine Performance, die ins Herz und unter die Haut geht. Als Vertreter der Jahrgänge um 1970 stehen sie für eine gesättigte Musik-Fülle in der (statistisch wohlwollend gezählten) Mitte des Lebens.
Während im Nordsternturm hoch oben mit weitem Blick über das Ruhrgebiet der Loibner-Niggli-Sound himmelwärts schwebt, ist die Band Maxime Bender’s Infinity of Sound anders perkussiv geerdet. Mit Maxime Bender (sax), Stéphane Kerecki (b) und Benjamin Moussay (p) hat sich eine nämliche Generation mit dem fast zwei Generationen älteren Urgestein des Jazz, Daniel Humair (Jahrgang 1938) zu einem einzigartigen Quartett gefunden.
Der Name ist Programm. Sie zelebrieren Musik als eine unendliche Geschichte. Zeiten und Orten verlieren ihre Grenzen. Benders weich atmendes Sopransaxophon im Austausch mit dem Bass-Melodiker Kerecki, subtil intelligent, wie kraftvoll begleitet von Moussays von Chopin bis zu Radiohead, von Monk bis Hancock beeinflusstem Klavierspiel sowie Humair's nie dominantes, gleichwohl klar akzentuiertes Drumming tönen sie Cool Jazz affin. Keine Kopie, sondern nahe der Coltrane-Sound-Stimmung „Researching with no limits“.
Mit dem Song „Fleur blu“ von Humair baut das Quartett eine emotionale Hommage-Brücke zu Joachim Kühn's Konzert des letzten Jahres am selben Ort. Dass das Trio Humair/Kühn/Jenny-Clark über Jahre (bis zum frühen Tod Jenny-Clarks 1998) den Jazz am Ende des 20. Jahrhunderts geprägt hat, schwingt kontextuell in Infinity of Sound mit. Ohne, dass das Quartett in Gefahr käme, sich als Einbahnstraßen-Kopisten zu verlieren. Dass Moussay wie auch Kerecki Schüler von Jean-François Jenny-Clark waren, zeitigt nicht von ungefähr (Hör)Spuren im Quartett-Sound.
So gegensätzlich die beiden Konzerte für den ersten Moment scheinen mögen, beziehen sie ihre unmittelbare Lebendigkeit: Percussive sound weights. Nie vordergründig, aber konzis und präzis in der Sound-Gestaltung.